Sonntag, 15. März 2020

PCS

Achtung, dieser Eintrag ist lang. Ich wollte ihn erst veröffentlichen, wenn ich wieder gesund bin. Das war ein längerer Prozess.


Eine Sekunde


Woche 1 – 3


Am 5. Dezember spiegelten sich die Häuser mal wieder auf dem Gehweg. Pures Eis. Da ich in diesem Winter schon einige schmerzhafte Erfahrungen hinter mir hatte, sorgte ich mit Spikes an meinen Schuhen vor. Und ausgerechnet diese verfingen sich unvermutet ineinander, ich stürzte in voller Fahrt auf einem Hang vorwärts. 

Für einen kurzen Moment, höchstens eine Sekunde, war ich nicht ganz da. Dann stand ich wieder auf und ab dann fühlte es sich an, als hätte sich etwas verschoben. Es zwiebelte in meinem Kopf, mir war plötzlich sehr übel und schwindlig. Aber natürlich erwartete ich von diesem alltäglichen Sturz keine ernsthaften Konsequenzen und ging weiter zur Arbeit. 

Im Lauf des Vormittags fiel mir auf, dass es länger dauerte, bis sich meine Augen von Weit- auf Nahsicht umstellten. Ich spürte meine Fingerspitzen nicht. Ich war weiter wie benebelt. Irgendwann verabschiedete ich mich vorzeitig. "Ich muss mich ein bisschen hinlegen. Bis morgen!" 

Das war der Auftakt zu einer sehr herausfordernden Zeit.

In den nächsten Tagen wurde der Schwindel schlimmer. Es wurde so gut wie unmöglich, mein Zimmer zu verlassen, eine Straße zu überqueren, Einkaufen zu gehen. Farben, Licht, Bewegungen überforderten meinen Kopf komplett und lösten etwas aus, was sich kaum beschreiben lässt. So etwas wie Gänsehaut im Gehirn, Watte in den Nervenbahnen, Stromschläge. Ich hatte noch nie etwas ähnliches gefühlt und es war existenziell bedrohlich. Wenn der Kopf verletzt ist, ist das so nah am eigenen Ich, das lässt sich nicht vergessen, ruhig stellen oder umgehen wie ein gebrochenes Bein. Es ist immer da, es verändert wie man in die Welt hineinsieht, wie die Welt ankommt und wie man darauf reagiert. Ich fühlte mich völlig hilflos, überfordert und hatte Angst vor dem, was in meinem Kopf passiert.

Mein Allgemeinarzt nahm mich nicht ernst. Voltaren und den Hals zu dehnen, außerdem viel Schlaf, dann werde es schon wieder. Ich hoffte, dass er recht hatte. Nachdem ein paar krankgeschriebene Tage vorbei waren, ging ich wieder einen Tag zur Arbeit. Es war ja schließlich nichts (zu sehen, zu fühlen, passiert). 
Am Abend schaffte ich es kaum nach Hause. Ich zitterte, mir war schlecht, mein Kopf rastete völlig aus. Zu viel Licht, zu viele Leute, zu viel Bildschirm und Denken. Das Wochenende verbrachte ich wieder isoliert zu Hause, ich musste alles absagen. Das Plätzchenbacken mit Freunden (immerhin war Advent), den Sport. Es war nicht möglich zu lesen, einen Film zu schauen, zu stricken. Ich lag auf meinem Sofa und hörte stundenlang Podcasts. Ich war verzweifelt und fühlte mich betrogen. Von meinem Körper, der mich zuverlässig stundenlang durch den Wald rennen, tanzen, schwere Gewichte stemmen ließ. Und plötzlich nichts mehr konnte. Ich hatte Angst vor dem Unbekannten in meinem Kopf. Geht gerade irgendetwas irreparabel kaputt, blutet? Es wurde schließlich nie untersucht.

Am nächsten Montag hatte ich ein standardmäßiges Gespräch mit meiner direkten Managerin. Sie brach es nach wenigen Minuten ab und schickte mich zur Rettungsstelle, weil ich blass, apathisch und völlig verwirrt vor ihr saß. 
Eigentlich wollte ich dort nicht hin und hatte Angst direkt wieder weggeschickt zu werden. Seit dem Sturz waren 10 Tage vergangen und ich schon zwei Mal beim Allgemeinarzt gewesen. 
Doch es war gut. Man nahm mich dort ernst, führte ein paar Untersuchungen durch. Und sagte mir, dass ich eine Gehirnerschütterung hätte, die Symptome völlig normal seien. In ihrer Stärke zwar nach zehn Tagen ungewöhnlich, aber noch im Rahmen. Spätestens im Verlauf eines Monats würden die meisten wieder völlig gesund.
Ich war unglaublich erleichtert. Außerdem war bald Weihnachten. Bis dahin brauchte ich nicht mehr zur Arbeit zu gehen und sollte mich ausruhen. Bald würde wieder alles beim Alten sein.

So schien es eigentlich auch. Ich fühlte mich wieder gesund, als ich nach Hause flog. Ich bummelte einen Tag durch Berlin und unternahm alle Erledigungen, die ich mir im Laufe der Monate immer auf meine to-do-Liste setze. Ich ging laufen. Ich war froh.
Und dann kam pünktlich zu Heiligabend der erste von vielen, vielen Rückfällen. Ich hatte so starke Kopfschmerzen, dass ich aus der Haut fahren wollte. Ich kaute scharfe Pfefferminzkaugummi, spazierte durch die klare, kalte Nachtluft, versuchte irgendwie Linderung zu bekommen. In den nächsten Tagen legte sich der Schwindel wie ein Schleier über alles und fuhr nur ab und zu für ein paar unverhoffte Minuten nach oben. Ich war so enttäuscht, wütend und kein angenehmer Zeitgenosse. Ich konnte wieder nicht lesen, nur minutenweise auf Bildschirme schauen und ein Spaziergang im Wald war nur mit Tunnelblick zu schaffen. Beim Autofahren wurde mir von der Bewegung schlecht. Ich saß am Flughafen und wartete auf meinen Rückflug. Das grelle Licht, die vielen Menschen, das Gehetzte und Chaotische, dröhnende Kopfschmerzen waren kaum auszuhalten.

Mir wurde klar, dass das ein langer Prozess werden würde.

Das postkommotionelle Syndrom


Woche 4 - 9


Normalerweise verheilt eine Gehirnerschütterung ohne Folgen innerhalb weniger Tage bis Wochen. Aber bei ungefähr 10% der Fälle entwickelt sich ein postkommotionelles Syndrom. Das ist bisher kaum erforscht, unsichtbar, nicht therapierbar. Im Großen und Ganzen gehen die Symptome der Gehirnerschütterung einfach weiter, wahrscheinlich weil entweder chemisch etwas durcheinander geraten ist oder sich einzelne Nervenstränge von dem Unfall nicht erholen. Das kann zu einem breiten Spektrum von Störungen und Beeinträchtigungen führen, Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, permanente Müdigkeit, Migräne, Persönlichkeitsveränderungen, Angstzustände, Depressionen, Gedächtnisprobleme, spätere Demenz. Die Symptome können Monate andauern. Oder Jahre. Oder für immer. 

Nachdem ich mir das vierte oder fünfte Mal wieder für eine Woche eine Krankschreibung abholte, gab man mir beiläufig diese Diagnose mit. Ich musste akzeptieren, dass ich weiter alles absagen musste, nicht so bald wieder durch den Wald rennen würde und meinem Körper weiterhin nicht trauen konnte.

PCS ist auf so vielen Ebenen beschissen. Weil es unsichtbar ist, und man oft das Gefühl hat, nicht ernst genommen zu werden. Weil es keinen linearen, verlässlichen Fortschritt gibt, sondern gute und schlechte Tage/Wochen, und immer, ständig, andauernd Rückfälle. Weil man alleine kämpfen muss. Weil es so lang dauert. Weil man sich selbst ständig unter die Lupe nimmt. Diese Zuckungen abends beim einschlafen, hatte ich das schon vorher? Dass ich in Adobe Illustrator eine bestimmte Funktion nicht auf Anhieb finde – liegt es daran dass ich wochenlang nicht damit gearbeitet habe oder leidet mein Gedächtnis? 
Mein Alltag blieb ein Schatten von dem, was vor dem 5. Dezember fest zu jeder Woche dazugehörte. Tanzen gehen. Sport. Jeden Tag 8 Stunden zu arbeiten. Abends zu lesen bis ich normal müde werde. Ski fahren zu lernen. Mich gut und gesund zu fühlen.

Ich mag meine kleine Wohnung und komme gut mit mir selbst aus. Aber irgendwann wurde es unerträglich in dieser Kapsel. Ich war glücklich, als ich wieder zu 30% anfing zu arbeiten. Leute treffen, etwas Sinnvolles tun, Input bekommen, sich nicht nur um sich selbst drehen. Die Quittung kam meistens direkt, spätestens am Abend. Starke Kopfschmerzen, Gehirnmatsche. Ich ging zwischen sieben und acht Uhr abends ins Bett und schlief elf Stunden durch. Ich spürte noch immer physisch die Reaktion in meinem Kopf wenn mehrere Menschen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten an mir vorbeigingen, vielleicht noch mit einem fahrenden Auto im Hintergrund, und es zu viel Information wurde. Aber ich wurde sicherer, brauchte nicht mehr ständig auf den Boden zu starren. Manchmal, wenn ich mit Freunden zusammen war, kapselte ich mich für eine viel zu lange Dauer ab: weil mir plötzlich ein englisches Wort fehlte und ich nicht eher ruhen konnte, bis ich darauf gekommen war. Um mir selbst zu beweisen, dass der Kopf doch wieder funktioniert.
Manchmal hatte ich so starke Kopfschmerzen, dass mir übel war, und Tabletten halfen nicht. Manchmal saß ich abends weinend zu Hause und hatte doch das Gefühl, dass es überhaupt keinen Fortschritt gibt und ich fragte mich, wie lange das meine Arbeit und mein soziales Umfeld noch mitmachen würden. Ich fühlte mich alleine und fand es schwer, noch mehr Hoffnung und Optimismus aufzubringen. In genau diesen Momenten erlebte ich aber auch oft, dass Gott mir nicht mehr zumutet, als ich schaffen kann. Dass er mir von einer Sekunde auf die nächste Ruhe und neue Entschlossenheit geschenkt hat. Dass er mich vor Depression, die viele mit PCS erwischt, bewahrt hat. Die starke Vorfreude auf das "Danach", das Leben wenn alles wieder in Ordnung ist, all die Pläne die ich für den Frühling schmiedete halfen mir immer und waren ein großes Geschenk.

Nach acht Wochen erlebte ich an einem Abend wieder einen extremen Tiefpunkt. Ich hatte, nach Anweisung der Ärzte, die mir alle zwei Wochen relativ unbekümmert eine neue Krankschreibung ausstellten, geruht. Ich hatte es immer mal wieder probiert, laufen zu gehen. Ich hatte viele Rückfälle erlebt, und dann direkt wieder runtergeschaltet. Immer der Gedanke, dass es meine eigene Schuld ist, weil ich nicht ruhig genug gewesen bin und es deshalb nicht besser wird. Es mag paradiesisch klingen, Ruhe halten zu müssen, aber nach vier bis fünf Wochen ist es richtig schlimm. Weil man doch gerne wieder dazugehören, funktionieren und kein Gedanken an sein Gehirn verschwenden möchte.
Ich erlebte kaum, dass es vorwärts ging, und vertraute mit keiner einzigen Zelle meines verletzten Kopfes darauf, dass mir Ärzte oder irgendjemand dafür sorgen würden, dass ich gesund würde.

Und dann bekam ich wieder von Gott neue Kraft. Und den absoluten Willen, dafür zu sorgen dass ich nicht zu einem der vielen Fälle werde, die seit Jahren durch PCS in Depression sind, die ihr komplettes Leben für immer abbremsen, abschirmen und neu ausrichten mussten.

Der lange Weg zurück


Woche 10 – ?


Ich suchte nach Leuten, die von einer Heilung von PCS berichteten. Es gibt sie im Vergleich zu den traurigen Fällen unverhältnismäßig seltener. Aber es gibt ein paar Blogposts. Und in diesen stieß ich auf eine Therapieform von auf Gehirnerschütterungen spezialisierten Kliniken, die Expose and Recover heißt. Und für mich sehr viel Sinn macht. 

Anstatt passiv abzuwarten, geht man wie beim Sport davon aus, dass das Gehirn wieder darauf trainiert werden muss, Umstände auszuhalten. Aus dem Mechanismus, Licht, Lärm, Bewegung und viele Menschen zu vermeiden, auszubrechen. Sondern bewusst all das wieder zu konfrontieren. In Kauf zu nehmen, dass das unangenehm ist. Wie Muskelkater Kopfschmerzen, Schwindel, Gehirnmatsche zu billigen. Das Gehirn sich anpassen zu lassen. Und daraufhin mit der nächsten Herausforderung zu kommen.

In diese Aufgabe stürzte ich mich enthusiastisch. Ich wollte endlich selbst wieder etwas unter Kontrolle haben. Und somit fing ich an, mir vieles wiederzuerkämpfen, worüber ich vorher nie nachgedacht hatte. Immer mit der Angst, doch das Falsche zu machen und mich endgültig zum kognitiven Wrack herunterzuwirtschaften. Mit Zweifeln. Mit Schmerzen und Anstrengungen. Aber ich habe es gemacht. Und so sah diese Zeit aus:






Ich traute mich aufs Eis (das war ein großes Ding!). Ich ging laufen (erst genau 3 Minuten im Fitnessstudio, dann eine kurze Runde durch die Stadt, dann endlich wieder in den Wald). Ich ging mit meinen Kollegen zum Afterski (dafür braucht man wirklich eine dicke Birne!). Ich fuhr Schneemobil.

Sehr oft hatte ich extrem starke Kopfschmerzen und wollte eigentlich absagen. Dann fürchtete ich mich aber von dem Gefühl dieser "Niederlage", diesem Zugeständnis, doch noch krank zu sein, mehr als vor den physischen Schmerzen. Und zog es durch. Und es ging gut.

Diese Wochen waren gepflastert von kostbaren, wiedererrungenen Momenten und Meilensteinen. Ich hätte weinen können, als ich zum ersten Mal wieder zu einem Bus rannte. Zu Hause eine einstündige Dokumentation am Stück schauen konnte, anstatt alle zwanzig Minuten eine Pause einlegen zu müssen. Einen mehrstündigen Workshop auf der Arbeit abzuhalten, bei dem mir niemand anmerkte, dass mein Kopf gerade explodierte. Es war unbeschreiblich herrlich, wieder das echte Leben zu kosten.

Es gab auch weiterhin Rückfälle. Nachdem ich zwei Wochen lang fast gar nichts merkte, war mir doch eine Woche lang wieder sehr schwindlig, und ich spürte abends eine absolut lähmende Erschöpfung die mich in Frage stellen ließ, ob ich überhaupt jemals wieder von meinem Stuhl aufstehen, geschweige denn den Rest des Lebens angehen könnte. Es gab Momente wie den, dass als ich um zwei Uhr meine Sachen zusammenpackte, meine Kollegin bemerkte: "Du hast es gut!" Mein linkes Auge fühlte sich an, als würde es gleich herausspringen, denn dort verbiss sich der Kopfschmerz gerne. Mir war den ganzen Tag schwindlig gewesen. Ich sagte nichts davon zu ihr.

Und doch, beinahe unmerklich, aber stetig, nahmen all die Symptome ab. Irgendwann hörte ich auf, die Wochen seit dem Sturz zu zählen, was mir verdeutlichte, dass in meinem Bewusstsein endlich wieder Platz für andere Sachen als diese Krankheit ist.

An diesem Punkt stehe ich nun. Ich freue mich noch nur zögerlich, weil mir all die Rückschläge noch schwer in den Knochen stecken und ich unzählige Male dachte, am Ziel zu sein. Aber dann erinnere ich mich an all die Sachen, die ich in den letzten Wochen machen und erleben durfte, und weiß, dass das alles ein paar Wochen vorher absolut, komplett, ohne Frage völlig undenkbar gewesen wäre. Vielleicht wird es weitere Rückschläge geben. Ich habe immer noch beinahe jeden Tag Kopfschmerzen. Aber ich kann endlich sicher sagen, dass es insgesamt bergauf geht. Dass ich wieder Ich bin.

Ich sehe zurück auf Monate voller gruseliger Erfahrungen und Gefühle, mit tiefster Verzweiflung und der erschreckenden Erkenntnis, wie sehr man kaputt gehen kann. Ich gehe aus dieser Zeit heraus mit nicht zuletzt der Erkenntnis, wie sehr man wieder heilen kann. Der Erinnerung, wie gut es ist, in so einer Situation einen starken Gott an seiner Seite zu haben, den man anbrüllen kann und vertrauen, dass er es doch in der Hand hat. Der Selbstreflexion, dass ich im Innersten vielleicht doch nicht wie immer angenommen ein Pessimist oder Realist bin, sondern ein Optimist und in der Lage, Hoffnung zu bewahren. Dem festen Vorsatz, zukünftig Verständnis und Empathie Menschen mit unsichtbaren Krankheiten entgegenzubringen, aus der Erfahrung heraus wie sehr man tatsächlich ohne äußerlich sichtbaren Schaden leiden kann. Und auch dem Vorsatz, mich häufiger daran zu erinnern, was für ein Wunder Gesundheit ist und was für eine großartige Leistung mein Gehirn in jeder Sekunde bringt wenn ich es nicht bemerke.
Es ist nicht so, dass ich mittlerweile die letzten vier Monate nicht missen wollen würde und im Rückblick einen Sinn in ihnen sehe. Aber ich will Gott auch nicht mehr anklagen. In irgendeiner Weise wird es eine Lehrstunde gewesen sein. In der gesamten Zeit habe ich auf den Moment gehofft, in dem ich diesen Blogpost schreiben und auch veröffentlichen kann, in der Rückschau, nachdem alles vorbei und überstanden ist. Ich bin aus tiefstem Herzen unendlich dankbar, dass das keine selbstbetrügerische Illusion war, sondern Wirklichkeit geworden ist. PCS wird nicht mein Leben bestimmen. Vielleicht, weil ich vom passiven Abwarten die Kehrtwendung gemacht habe und stattdessen auf expose and recover gesetzt habe. Ganz sicher aber vor allem, weil der, der die Macht über alles hat und trotzdem keinen einzigen kleinen Menschen aus dem Blick verliert, einen anderen Plan hatte.