Mittwoch, 27. März 2019

Fehler im System


Ich hatte es ja schon ab und zu anklingen lassen, wie kompliziert es ist in dieses norwegische, elektronische System reinzukommen. Die Schlacht dauert an, und mittlerweile sind so viele absurde Situationen entstanden, dass ich gar nicht umhin kann, einen eigenen Blogpost dazu zu schreiben. Es ist wie in Kafkas düsteren Romanen, oder dem Asterix-Film wo Asterix und Obelix beim Amt den Passierschein A38 beantragen sollen. Völlig verrückt.

Für Norweger, und wenn man einmal drin ist, scheint es zu funktionieren. Alles Offizielle, Medizinische, Finanzielle kann online beantragt, unterschrieben und eingesehen werden. Wer allerdings (noch) nicht drin ist, für den gibt es keine Alternative.

Die erste Voraussetzung ist eine norwegische Personennummer, und ich berichtete davon, dass ich bei der zuständigen Behörde im Dezember einen Termin für Anfang April bekommen habe. 
Nur weil mein Arbeitgeber eine Agentur angeheuert und teuer Geld bezahlt hat, habe ich meine Nummer im Schnellverfahren bekommen. Damit konnte ich ein Bankkonto eröffnen und mein Gehalt bekommen (nach zwei Monaten). Außerdem bezahle ich jetzt beim einkaufen endlich nicht mehr teure Gebühren und absurde Wechselkurse.

Damit konnte ich auch ein Dokument beantragen, das ich brauchte um bei der deutschen Botschaft einen neuen Reisepass zu bekommen. Den Reisepass braucht man nämlich, um zu seinem Konto eine Bank ID zu bekommen. Diese bescheuerte Nummer treibt mich wirklich in den Wahnsinn, dazu später mehr.

Immerhin erschien ich mit der Personennummer auf dem offiziellen Radar, was bedeutet dass ich endlich einen Arzt zugewiesen bekam. Ab diesem Zeitpunkt durfte ich krank sein! Man darf nämlich nur zu dem Allgemeinarzt gehen, der einem zugeteilt wurde, und nur mit einer Überweisung von diesem Arzt zu anderen Spezialisten. 

Zum Beispiel dem Ohrenarzt. Ich habe ein kleines Handicap, und das sind sehr kleine Gehörgänge. Das ist eigentlich nicht weiter schlimm, wenn ich regelmäßig zu einer Ohrenreinigung gehen kann. Passiert das aber nicht, ist die Kacke am dampfen. Wirklich.

Ich merkte schon Anfang Februar, dass es knapp wird, und wachte nachts oft mit Ohrenschmerzen auf. Aber – keine Personennummer, kein Allgemeinarzt, kein Ohrenarzt. Also wartete ich ab.

Anfang März, mit Personennummer, bekam ich den Brief mit der Adresse einer, ab sofort meiner, Ärztin. Ich machte mich direkt auf, und tigerte eine ganze Weile durch den Gebäudekomplex, in dem diese Ärztin ihre Praxis haben sollte. Nachdem ich nichts Konkretes fand, setzte ich mich einfach in einen offensichtlichen Wartezimmerbereich. Und bekam mit, wie eine Frau neben mir eine vorbeieilende Schwester fragte, was denn mit Frau XY, meiner Ärztin sei, sie sei gar nicht mehr ausgeschildert. „Na die hat aufgehört!“. Aha? Wieso erfährt man das nicht? Und wo gehe ich jetzt hin?

Man hat das Recht darauf, bis zu zweimal pro Jahr seinen Arzt zu wechseln. Das passiert – natürlich online. Und dafür brauche ich eine Bank ID. Da mein Reisepass noch nicht fertig war hatte ich die nicht, und somit wiederum keine Möglichkeit zu einem Arzt zu gehen.

Seid ihr schon verwirrt? Das ist erst der Anfang.

Also machte ich mich über eine Alternative schlau, die Ohren wurden dringend. 
Ein Norweger hat hier zwei Unternehmen mit dem selben Konzept gegründet. Eine Friseurkette, in der am Fließband Haare geschnitten werden, ohne Termin, zum Festpreis und in einem festen Zeitrahmen von 15 Minuten pro Kunde. Schnell, unkompliziert, unpersönlich.

Diese Kette läuft gut, und deshalb hat dieser Mann ein zweites Unternehmen aufgebaut. Das selbe Konzept, für private Ärzte. Man kann online unkompliziert einen Termin buchen, Montag bis Sonntag, zahlt einen Festpreis und bekommt 20 Minuten mit einem Arzt. Keine Sprechstundenhilfe, extrem kleine Räume, Masse statt Klasse. Auch das läuft gut. 

Also habe ich dort einen Termin gebucht. Vor der Arbeit schnell dieses Ohrenproblem klären lassen und weiterschweben, so hatte ich mir das gedacht. Ich habe naiverweise immer noch ein Urvertrauen in Ärzte. Der Kittel in weiß wird doch wissen, was zu tun ist?

Der Kittel in weiß war extrem jung, nervös und unerfahren. Immerhin stellte sie direkt fest, dass meine Ohren unnormal klein sind, und gereinigt werden müssen. Sodann kramte sie ein Gerät aus ihrem Schrank und baute es umständlich auf. Es sah aus, als hätte sie es noch nie zu vor benutzt. Als es nicht funktionierte, wies ich sie darauf hin, dass vielleicht noch der Power On-Knopf zu drücken ist. Und schon spritzte Wasser aus der Düse.

Die nächsten zehn Minuten bestanden aus viel Wasser, das überall hin gelaufen ist und sich in meinem Schoß sammelte, was später natürlich original so aussah wie eingepinkelt.
Erfolgreich verstopfte die Dame meine Ohren damit endgültig. „Ich höre jetzt links nichts mehr!“, bemerkte ich, nicht allzu vorwurfsvoll, denn ich sah dass der Stresslevel der Ärztin schon enorm hoch war. „Das geht in ein paar Minuten wieder weg.“ Aha. Ich lebe ja nun schon eine Weile mit diesen Ohren, und weiß dass es nicht so ist. Aber ich sagte nichts weiter.
Auf der rechten Seite wiederum, meinte die Ärztin eine Infektion entdeckt zu haben. Davon wollte sie eine Probe einschicken. Mit einem langen Wattestäbchen stichelte sie in meinem Ohr herum, und erwischte mehrmals diese Stelle. Und das war wirklich krass. So einen Schmerz habe ich noch nie gespürt, mir schossen sofort die Tränen in die Augen.  Ich konnte die nächsten zwei Stunden einfach nicht mehr aufhören zu heulen. Keine Ahnung was das war. Wie ein umgelegter Schalter.

Da sie einsah, dass nicht viel erreicht wurde, stellte sie mir wenigstens die heißersehnte Überweisung zu einem Ohrenarzt aus. 
„Wie lange dauert das bis ich einen Termin bekomme?“ 
„Wahrscheinlich 2 – 4 Wochen.“
„Auch wenn es akut ist?!“
„Naja, wenn bei der Probe was rauskommt geht es vielleicht schneller. Aber ansonsten nicht.“
Ich bezahlte brav meinen Betrag, sollte in einigen Tagen Bescheid bekommen was bei dieser Probe herauskommt und machte mich auf und davon. Der Weg zur Arbeit war peinlich, weil ich nicht aufhören konnte zu weinen. Ich hörte auf einem Ohr nichts. Und das alles sollte erst in ein paar Wochen behoben werden. Auf der Arbeit merkte meine Kollegin sofort dass etwas nicht stimmt und ich konnte mich bei ihr zu Ende ausheulen.

Das norwegische Gesundheitssystem? Ich werde es nicht wagen, hier ernsthaft krank zu werden. Und viele Deutschen haben es mir bestätigt – das ist hier ein ganz anderes Niveau als in Deutschland. Die richtige Therapie zu bekommen ist Glückssache. Dass die Norweger so gelassen sind, ist meistens angenehm. Aber an diesem Punkt ziehe ich deutsche Gründlichkeit vor.

Immerhin ist am nächsten Tag ein kleines Wunder passiert. Da telefonieren etwas ist, was ich am liebsten vermeide, bin ich direkt zu dem Ohrenarzt hingegangen. Die ganze Nacht legte ich mir die Worte zurecht, die die Sprechstundenhilfe davon überzeugen sollten, mir einen früheren Termin zu geben.
Ich baute mich also am nächsten Morgen vor ihr auf (damit bin ich ja schnell fertig) und begann meine Rede. Nach anderthalb Sätzen unterbrach sie mich schon: „Ich habe jetzt einen Termin, wollen Sie gleich hier bleiben?“
Hätte sie nicht hinter einer Glasscheibe gesessen, hätte ich sie geküsst!
Keine zwei Minuten später saß ich bei einer echten, erfahrenen, extrem freundlichen Ärztin. Und sie hat alles wieder gut gemacht. Dabei den Kopf geschüttelt über das, was ich ihr vom Vortag erzählte. Die „Infektion“ sei einfach getrocknetes Blut von der brutalen Behandlung. Sie prüfte vorsichtshalber noch, ob dadurch dauerhafte Schäden an den Trommelfellen entstanden sind. Glücklicherweise nicht.
Und, um diesen wundervollen Arztbesuch zu krönen, gab sie mir auch direkt den nächsten Termin mit, sodass ich nie wieder den Umweg über zweifelhafte Allgemeinärzte machen muss. 

Diese Geschichte ging also gut. 

Trotzdem brauche ich nach wie vor eine Bank ID. Um den Vertrag für mein Kautionskonto zu unterschreiben. Glücklicherweise ist der Vermieter geduldig, das hätte ich nämlich schon Ende Februar machen müssen.

Um Vipps einzurichten. Vipps ist eine App um Geld zu überweisen, und von der Kirche über den Flohmarkt, jeder bezahlt nur noch damit. Ein weiteres kleines Detail, das zeigt dass man noch nicht dazugehört und das Leben umständlicher macht für alle Beteiligten. Kein Mensch verwendet hier noch Bargeld.

Um meinen Allgemeinarzt zu wechseln.

Um mich beim Portal für meine Steuern einzuloggen.

Um die Ergebnisse von dieser ominösen Probe einzusehen. Ja, sogar das passiert online und ich habe zur Zeit keinen Zugriff darauf!

Mittlerweile habe ich ja einen Reisepass und die Bank ID schon lange beantragt. Der Brief dafür ist auch bei meiner Post angekommen. Und schon zweimal habe ich versucht, den ausgehändigt zu bekommen. Man muss sich mit seinem Reisepass ausweisen, und dieser wird gescannt. 

Aus irgendeinem Grund hat der Scanner ein Problem mit meinem nagelneuen, Reisepass. Es gibt immer eine Fehlermeldung. Samstag trieb ich einen völlig gestressten und unfreundlichen Mitarbeiter damit in den Wahnsinn, bis er mich wegschickte und meinte an Wochentagen seien erfahrenere Leute da.

Gestern stand ich 40 Minuten an dieser Poststelle, mein Pass wurde unzählige Male gescannt. Hinter mir aus der Schlange mischte sich eine junge Frau ein und meinte, sie arbeite mit Pässen, ob sie mal gucken könne … Daraufhin beratschlagte sie sich mit dem Postangestellten, der Scan sieht eigentlich gut aus, keiner weiß woher die Fehlermeldung kommt.
Sie ging einkaufen, der Angestellte telefonierte sonstwo herum um herauszufinden was an dem Gerät kaputt ist. Ich wollte so gerne diesen blöden Brief bekommen! Wenn er nicht innerhalb einer Woche abgeholt wird, wird er nämlich wieder zurückgeschickt. Nix mit Bank ID.
Die Frau aus der Schlange war fertig mit einkaufen, ich stand immer noch da. Sie entpuppte sich als Deutsche, versuchte weiter zu helfen, ob ich mich nicht mit meinem deutschen Personalausweis ausweisen könne.
Nein, das geht nicht, da steht nämlich das Geschlecht nicht drauf, dieses Dokument wird in Norwegen nicht anerkannt.

Und somit musste ich auch dieses Mal unverrichteter Dinge wieder abziehen. Sie versuchen, das Gerät zu reparieren, ich soll in zwei Tagen wiederkommen. Ich hoffe, dass der Brief dann noch da ist.

Ist es nachvollziehbar, dass ich mittlerweile von diesem norwegischen Onlinekram extrem genervt bin? So dumm kann man gar nicht denken, wie es an jeder Stelle kommt. Und alles hängt zusammen, sodass eine einzelne fehlende Komponente dafür sorgt, dass man außen vor steht. Deutsche Bürokratie ist Urlaub dagegen.

Ich harre natürlich weiter aus und hoffe. Bald bricht der vierte Monat hier an, vielleicht habe ich es ja dann doch bald mal endlich geschafft, Teil dieses Systems zu werden! Und dann muss ich auch eine Weile hier bleiben, so hart wie das erkämpft ist.

Ist lang geworden heute, und deshalb fang ich nicht noch an, über Wohnung und Allgemeinzustand zu erzählen. Aber auch dazu schreibe ich euch bald!

Lasst es euch gut gehen, genießt den Frühling! Man sieht sich.