Freitag, 30. September 2016

Norwegen-Report III

Tag 5, 12 Uhr 22: Zum ersten Mal wird wieder gegen einen Baum gepinkelt. Die Zeichen häufen sich, wir lassen die karge, pflanzen-, komforts- und essensarme Wildnis hinter uns, steuern auf das echte Leben zu. In zwei Tagen müssen wir schon flugzeugtauglich sein. Im Moment könnten wir dort maximal durch die Reihen gehen und den Straßenfeger o.Ä. verkaufen, das würde sich vielleicht sogar lohnen. Tobi übt schonmal.

Aber zunächst geht es in die harte Phase der letzten Essensrationierung. Gedanklich teilt man die traurigen Reste der Müsli- oder Brottüte durch die drei noch kommenden Mahlzeiten. Ich esse meine mir errechnete Portion. Erinnere mich dann daran, dass ich mich ja um den morgigen Tag nicht sorgen soll und gönne mir noch einmal so viel; hungrig kann man mich sowieso niemandem zumuten.

Von morgens bis abends begegnen wir immer wieder dem selben Wanderer-Pärchen. Wir überholen sie, machen Pause, werden wieder überholt, schließen auf, und so weiter. Ich finde, dass er aussieht als sei er Arzt und wappne mich schon dafür, ihn eines Tages in irgendeiner Praxis zu sehen und mich ewig zu fragen, woher ich dieses Gesicht kenne.


Abends ist die Stimmung schlecht. Meine zumindest. Es ist hundeelendsschweinekalt, der Wind pfeift wie verrückt und wir zelten auf einer Wiese ohne jeden Schutz. Die Sonne ist weg, ich zittere vor mich hin und bin auch echt kaputt. Nur noch eine Nacht ist in der Wildnis zu überstehen. Warum macht man das bloß. Ich will mich in irgendeinem Loch verkriechen und schlafen, aber das Zelt muss aufgebaut die Isomatte aufgepustet, der Schlafsack ausgerollt werden. Der Kocher wird angeschmissen, ich bin gerade dabei ein paar Heidelbeeren zu sammeln die hier in rauen Mengen wachsen, als es anfängt zu regnen. Na klar, als würde es nicht schon reichen, kalt, müde und hungrig zu sein, jetzt ist man kalt, müde, hungrig und nass. Klasse. Welcher Idiot hatte die Idee in Norwegen zelten zu gehen. Lächelnd und winkend ziehen unser wandernder Arzt und Ehefrau an uns vorbei.
Auf der Wiese stehen etwas entfernt einige Häuschen, bis auf eins sind alle verlassen. Wir flüchten auf die überdachte Veranda von einem von ihnen während die Nudeln kochen. Sehnsüchtig schaue ich durch die Fenster in eine wahnsinnig gemütlich eingerichtete Küche und Wohnzimmer. Wie schön wäre das jetzt, vier Wände um mich herum, ein Dach über dem Kopf und ein kleines Feuerchen vor der Nase. In dem Schaukelstuhl zu sitzen, warmen Vanillepudding gegessen zu haben, ein Buch zu lesen und dem Regen nur zuzuhören. Dabei sauber und in irgendetwas Flauschiges eingemummelt zu sein, anstatt 5 Schichten Kleidung zu tragen von der die oberste klamm und feucht ist, währenddessen gleichzeitig zu frieren und den vom Tag angetrockneten Schweiß zu spüren. Es ist elendig. Ich frage mich, ob das ansatzweise das Gefühl ist das Obdachlose haben, wenn sie abends übrig bleiben auf der Straße nachdem alle anderen nach Hause gegangen sind. Wenn sie draußen bleiben, während drinnen Licht, Heizung, Dusche und Herd eingeschaltet und die Witterung vergessen wird.

Der Pott dampfende Nudeln, den ich dann in den Händen halte, ist das leckerste das ich jemals gegessen habe. Nudeln, eigentlich nicht so meins, einfache Kohlenhydrate. Tütchensoße, mache ich nie. Das Ganze auch noch am Abend - würde mir zu Hause im Traum nicht einfallen. Hier ist es paradiesisch und die große Portion + Nachschlag wird bis zum letzten Bissen genossen, ich hätte noch dreimal so viel davon essen können.
Es hört auf zu regnen, Tobi hat mir seine Handschuhe geliehen und trotzdem ist der Wind so unbarmherzig und gemein dass es kaum auszuhalten ist. Die eiserne Disziplin, die mich sonst jeden Abend ins säubernde Wasser getrieben hat, löst sich komplett in Luft auf. Ich steige so wie ich bin, gefühlt stinkend dreckig, in den Schlafsack und finde es schrecklich. Nur noch einmal, morgen sind wir auf einem Campingplatz, morgen kann ich duschen, morgen fahren wir auch Bus, ich muss nicht mehr so viel laufen und in Bergen habe ich frische Socken und leichte Schuhe, zu Hause gibt es wieder Äpfel.
In der Nacht schlägt mir ständig die Zeltplane ins Gesicht, ich befürchte, dass die Nässe durchdringen könnte, ich prüfe noch dreimal ob ich den Regenschutz auf die geliehene Kamera gezogen habe, ich hoffe inständigst, nicht bald aufs Klo zu müssen und dass das Zelt nicht fortfliegt. Ich wünsche mir sehnlichst den Morgen herbei. Währenddessen schläft Max neben mir nach eigenen Angaben so gut wie auf der ganzen Tour noch nicht. So viel Unbekümmertheit hätte ich gerne mal!

Und dann ist es früher Morgen, ich mache die Augen auf und das Licht im Zelt erscheint mir extrem vielversprechend. Ein vorsichtiger Blick nach draußen übertrifft kühnste Erwartungen: die Sonne scheint. Der Himmel strahlt tiefblau, die Wiese ist saftig grün, der Bach rauscht sanft, der Wind ist maximal noch eine Brise. Ich könnte ausrasten vor Freude. Ich suche meine Klamotten zusammen und kann waschen gehen. Endlich!!! Ich habe eine Bombenlaune und bis die anderen dann auch aufstehen sammle ich noch eine Tasse Blaubeeren zusammen. Danke Gott für den Sonnenschein, Danke Danke Danke. Das Frühstück ist kulinarisch ein echtes Highlight, die frischen wilden Beeren machen die Haferpampe direkt instagram-tauglich.



Wir machen uns wieder auf, lassen das Wanderpärchen hinter uns und konzentrieren uns dann auf die Schlammschlacht, die der restliche Abstieg darstellt. Manchmal sinkt man so tief ein dass die braune Brühe oben in die Socken schwappt. Ich nehme mir vor, meine Schuhe nach dieser Wanderung doch mal zu säubern.
Und dann, viel zu schnell um sich zu akklimatisieren, laufen wir auf einer Straße und sitzen vor einem riesigen Hotel, an einer Baustelle die den jetzt schon beliebten, riesigen Wasserfall Voringsfossen noch weiter ausschlachten und für Touristen attraktiv machen will, mit Panoramaweg und hast du nicht gesehen. Wir finden uns wieder zwischen Pumps, iPhones, weißen Hosen und Souvenirshop. Bis unser Bus ein paar Stunden später kommen wird übt das hoteleigene freie Wlan-Netz eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Ich habe mein Handy in Bergen gelassen und versuche das Gefühl vom Draußensein noch zu behalten, aber es zerrinnt zwischen den Fingern. In regelmäßigen Abständen schütten Reisebusse eine neue Portion Urlauber aus, die schnatternd und fotografierend zielstrebig Shop und Hotel-Café anpeilt. Ich konzentriere mich auf mein Eis am Stiel, das Lakritzstückchen beinhaltet. Wenigstens das erinnert mich daran, dass ich mitten in Skandinavien sitze und Abenteuerurlaub mache.
Schließlich trifft auch unser Wanderpärchen ein und fährt später selbstverständlich in dem selben Bus wie wir. Erst als wir eine Station vor ihnen aussteigen, trennen sich unsere Wege endgültig.
Eine wichtige Sache wird aber noch geklärt. "Sind Sie eigentlich Arzt?" Verblüfft ist er, aber nicht Arzt, sondern im sozialen Bereich tätig. Na gut.



Der Rest ist Geschichte. Wir genießen auf dem Campingplatz für 5 Kronen eine dreiminütige Dusche und schaffen es, uns rechtzeitig zu resozialisieren. Der Straßenfeger war nicht notwendig. Unsere Reisekasse, mit 3000 abgehobenen Kronen, reicht auf den Punkt genau für die letzten Ausgaben wie Bahnfahrt usw. Max ist so ausgehungert, dass er kaum dass sich die Möglichkeit eröffnet, einen kompletten Laib Brot kauft und verspeist. Mit dem extrem nervigen Rückflug schließt sich dann der Kreis. Willkommen zurück.

Auch wenn der Erholungseffekt ziemlich schnell flöten gegangen ist, genauso wie die erlangte Bräune, die Erinnerungen und Fotos bleiben. Etwas auf das man zurückfallen kann wenn der Alltag es wieder nicht wert ist, länger darüber nachzudenken.
Es ist unglaublich, wie perfekt das Wetter war. Dass es keine großen Verletzungen gab. Wie gut die Gruppe funktioniert hat. Was wir für phänomenale Landschaften gesehen haben. Dass wir, dreieinhalb Jahre nachdem wir sinnend am Küchentisch saßen, genau den Felsen mit unseren eigenen Füßen betreten und unser eigenes Trolltunga-Foto gemacht haben. Dass die geliehene, 3000€-teure Profikamera keinen Kratzer abbekommen hat. Und noch so viel mehr. Danke Gott.

Dienstag, 27. September 2016

Norwegen-Report II

Dass Zelten im hohen Norden nicht nur Zuckerschlecken ist, merke ich am nächsten Morgen. Ich friere mich dumm und dämlich, komme aus dem Zittern überhaupt nicht mehr raus. Ein eiskalter, scharfer Wind fegt durch alle Schichten hindurch und nimmt einem jedes bisschen Wärme. Und wenn Mama vor der Tour noch beteuerte "Liebes Kind, diese Jacke ist winddicht!", so muss ich nun leider feststellen: "Ne, isse nich!!!"
Mit gesammelter Erfahrung steigern wir uns bei jeder Tour, was Ausrüstung, Planung, das Packen usw. anbelangt. Mittlerweile sind wir Trekking-Profis (finde ich). Der stetige Fortschritt gipfelt in der Maßnahme, dass jeden Morgen ein Liter Wasser zum kochen gebracht und die Möglichkeit eines heißen Getränks angeboten wird. Der Hammer, morgens in den Bergen zu sitzen und eine Tasse Kaffee zu trinken!
Heute wärmt die mich aber auch nicht. Meine Finger haben sich irgendwie schon längst verabschiedet, von mir nehmen sie jedenfalls keine Befehle mehr entgegen. Das Abwaschen im See verbessert das nicht, und das Zeltaufräumen und -zusammenpacken ist eine echte Qual. Ich hasse Zelten ... in diesem Moment. Wer hat die Heringe überhaupt so tief in den Boden gedroschen, und warum passen Schlafsäcke nie in ihre Hüllen und die Isomatte wird sowieso immer dicker. Warum nehme ich seit drei Touren keine Handschuhe mit und bereue es jedes Mal. Ich hab schon wieder Hunger, und mir tun die Füße weh. Können wir endlich los?!

SO kalt ist mir (Foto von Timon)


Glücklicherweise wird einem beim Gehen wärmer weniger kalt. Die Jungs ziehen schon nach 20 Minuten eine Schicht nach der anderen wieder aus, aber mit Vernunft muss man denen ja auch nicht kommen. Bis zur Mittagszeit glaube ich aber doch, dem Kältetod von der Schippe gesprungen zu sein und am Nachmittag trenne ich mich von einem der Pullover. Denn immerhin scheint die Sonne wieder mit ganzer Kraft. Mittlerweile laufen wir über das x-te Schneefeld, und was anfangs noch unglaublich sensationell war nervt nun ziemlich. Das Eis-Schnee-Gemisch ist extrem rutschig, man sinkt tief ein und kommt kaum vorwärts. Auch die auf dem Rucksack runterrutschende Variante der Überquerung empfinde ich als nicht überzeugend. Sieht scheiße aus, macht nass und SO viel früher ist man auch nicht da.
Eines der Schneefelder ist eher braun als weiß, die Hinterlassenschaft von einer Herde Schafen. Dooferweise ist der Schnee an genau dieser Stelle besonders gut angetaut und weich, und der Hang besonders steil. "Wer sich hier hinpackt, liegt richtig in der Scheiße!" Kaum sind die Worte ausgesprochen, leistet Max ihnen auch schon folge und setzt sich mitten rein in die Schafsexkremente. Wenigstens wird es weich gewesen sein.

Der immer gleiche Trott wurde im Lauf des Tages durch einen Fluss enorm aufgelockert. Das Überqueren der vielen Flüsse in der Hardangervidda ist immer wieder eine spaßbringende Zwischenübung voller Überraschungsmomente. Oh, der Stein wackelt ja doch. Oh, und der Stein rutschts ganz schön ziemlich. Oh, für die nächsten fünf Stunden nasse Socken.
Dieser Fluss nun hatte zwei besondere Herausforderung. Erstens: er war viel tiefer und breiter als die anderen. Das bedeutete, dass wir uns einer Sache stellen mussten die man während der Wanderung lieber verdrängt: unseren nackten Füßen, die sich spätestens nach Tag 2 im olfaktorischen Ausnahmezustand befinden. Sie stinken. Aber es hilft alles nichts, wir mussten Schuh, Sockenschicht 1 und Sockenschicht 2 ausziehen, die Hosenbeine hochkrempeln und durchwaten. Kein Spaß, wenn deine Füße schon in der sanften, gepolsterten Wollsocke schmerzen und nun von schweinekaltem Wasser umspült ihren Weg durch spitze Kieselsteine bahnen müssen, bei einer Strömung die keine vorsichtigen Schritte zulässt. Ich kam ohne unfreiwillige Showeinlage am anderen Ufer an, die anderen leider auch, das hätte sicherlich lustig ausgesehen.
Diese Übung war für uns erfahrene Wanderer natürlich ein Kinderspiel. Komplizierter war die zweite Herausforderung: zwei Österreicher am Ufer, deren fröhlich-aufgeregtem Redeschwall in breitestem Dialekt wir uns kaum wieder entreißen konnten. Na gut, eigentlich waren sie ganz freundlich und haben uns noch ein paar Tipps für die kommende Wegstrecke gegeben. Man muss den Dialekt halt mögen.


Im Laufe des Tages näherten wir uns dem Harteigen (geschrieben mit irgendwelchen speziellen norwegischen Akzenten). Das ist ein extrem prägnanter Berg, weil er ganz allein auf der Hochebene steht. Am nächsten Tag wollten wir auch diesen erklimmen um zu gucken, wie die Luft da oben so ist, aber zunächst suchten wir uns in seiner Nähe erst einmal einen Zeltplatz. Und fanden ihn, idyllisch gelegen an einem Flusslauf, auf einer kleinen Anhöhe. Alles sehr nett, lediglich die Sanitäranlagen (zwei Felsen in unmittelbarer Nähe) ließen etwas zu wünschen übrig, spätestens nachdem da mindestens drei Leute ihren Scheiß hatten rumliegen lassen. Eine leere, weggeworfene Klopapierrolle war zudem stummer Zeuge existenziellster Sorgen eines Kollegen, aber da kann man kein Mitleid haben. Das Leben auf dem Berg ist unbarmherzig und jedes Blatt wertvoll, wer abgibt geht am Ende möglicherweise mit zugrunde.
Ich wandte mich ab von dem Elend und suchte mir meinen eigenen Waschraum, auch wenn man dafür ein paar Schritte weitergehen musste. Dort hatte ich sogar fließend Wasser und fast eine Badewanne, jedenfalls war der Fluss tief genug um sich ordentlich zu waschen und unterzutauchen. Wie jeden Abend erledigte ich auch das, und es war gleichzeitig schrecklich und schön.
Wirklich, der abendliche Abstecher in den Fluss oder See war jedes Mal etwas Besonderes. Man ist alleine, hat seine Ruhe. An jedem Tag schien die Sonne wenn ich waschen war, das habe ich auch immer von Gott vorher so bestellt. Das Wasser ist zwar immer noch unbeschreiblich kalt, die Füße tun weh wie sau und verlieren dann recht schnell das Gefühl, und oft weht auch ein Wind, aber wenigstens ein bisschen Wärme bekommt man doch ab. Und irgendwie konnte ich so am Fluss, in der Abendsonne und ohne irgendeinen Laut außer des Wasserplätscherns immer besonders gut mit Gott quatschen und fühlte mich ihm sehr nahe. Am Ende ist es ein wunderbares Gefühl, endlich wieder einigermaßen sauber und, abgetrocknet und schnell in den "Schlafanzug" gesprungen, auch wieder warm zu sein.
Während die Kräuter der Provence gekocht wurden, hatten wir Zeit um Skat zu spielen, was man mir endlich erfolgreich hatte beibringen können. An jenem 18. August gewann ich meine erste Partie.  Am Ende fehlte nur noch die Cola-Flasche, um den Tag erfolgreich abzuschließen. Und für den nächsten war schlechtes Wetter angesagt.


Gibt immer einen, der mit verschränkten Armen daneben steht wenn andere arbeiten

19. August, die Wettervorhersage stimmt, es ist bedeckt. Perfekte, leicht bedrohliche Stimmung für die Klettereinlage am Vormittag. Denn der Harteigen wird bezwungen, und es gibt nur eine Aufstiegsroute. Die zeichnet sich dadurch aus, dass irgendjemand zu einem nicht feststellbaren Zeitpunkt in der Vergangenheit ein paar Seile an die Felsen gehangen hat um den vielen kleinen abenteuerlustigen Touristen bei ihrem Aufstieg zu helfen. So schon nur bedingt vertrauenserweckend, dass an manchen Stellen gleich mehrere Seile nebeneinanderhängen macht es nicht besser. Welches ist denn die schlechte Strippe, die ersetzt wurde? Oder sind sie alle gleich marode um in der Summe ein belastbares Seil zu ergeben? Vielleicht waren auch einfach noch ein paar übrig und sie wieder mit runterzunehmen hatte sich nicht gelohnt.


Wie auch immer, wir lassen unsere Rucksäcke unten, klettern zunächst über jede Menge Geröll und machen innerhalb kürzester Zeit viele Höhenmeter. Ich zumindest komme mir vor wie in einem Abenteuerfilm, oder einer Doku über kühne, unerschrockene BergsteigerInnen bei der im Abspann kommt: wir raten Ihnen, diese Szenen zu Hause nicht nachzumachen. Denn wie gesagt - der Himmel ist dunkel und verhangen, teilweise nieselt es. Die Steine werden rutschig. Die Gegend ist unwirtlich und karg, kein Strauch wächst auf dem Geröllfeld. Jeder ist konzentriert und auf seinem eigenen Teil der Route, man hört kaum einen Laut. Bis auf dieses Gänsehaut-Geräusch von kleinen, den Berg herunterrollenden Kieselsteinchen, die entweder jeder Menge Kollegen nach sich ziehen oder auch nicht. Wir steigen immer höher, links und rechts ragen die Felswände sehr nah steil in den Himmel. Angsteinflössend. Und dann die ersten Seile. Jetzt fängt der Spaß richtig an. Wenn man tagelang gedankenlos fast nur die Beine bewegt, ist es aufregend, jetzt auch Arme und Schultern mit einzusetzen und sich jeden Schritt genau zu überlegen. Ich frage mich, warum ich noch nie klettern war.

Und dann erreichen einen wieder sehr angenehmen Weg, schließlich auch die Spitze. Yes! Ich bin nicht so der Mensch, der sich für weite Aussichten begeistern kann, und hier sieht es auch noch in jeder Richtung gleich aus. Hügelige Landschaft mit Schneefeldern, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit russischem Zupfkuchen aufweisen. Seit Tagen läuft mir quasi jedes Mal das Wasser im Mund zusammen, wenn ich in die Ferne schaue. Ich darf dann gar nicht anfangen nachzudenken über kühle, cremig vanillige Quarkmasse, bedeckt von schokoladig-keksigen Streuseln die fest genug sind um im Mund zu knacken und in viele süße Krümelchen zu zerfallen ... Nein, so ein Müsliriegel ist ja auch gut. Corny Free. Ohne Zuckerzusatz. Völlig ausreichend. Wirklich.
Jedenfalls kann ich mich für Aussichten nicht ausschweifend begeistern, aber trotzdem ist es echt gut dort oben. Ein neues Titelbild für Facebook ist auch noch drin, und sowieso kann man in dieser filmreifen Landschaft wieder jede Menge Bilder machen. Ein winzig kleiner Mensch vor imposanter Bergkulisse - traumhaft, mehr braucht es nicht.
Hinunter ist der Weg noch aufregender. Ich habe das Gefühl, nur am rutschen zu sein. Die Seile stelle ich zweimal unverhofft auf Bewährungsprobe indem ich nach einem falschen Schritt plötzlich doch keinen Boden mehr unter den Füßen habe. Ich stelle fest, dass sie halten. Als wir unten sind jammern die Knie noch mehr als sonst, aber innerlich muss ich den ganzen Tag grinsen. Toller Abstecher!



Wer würde da nicht an russischen Zupfkuchen denken

Für den Rest des Tages geht es dann abwärts mit uns, vor allem topografisch. Die Landschaft wird wieder weicher und grüner, teilweise richtig lauschig. Bevor wir den von den Österreichern beschriebenen, wunderschönen Zeltplatz finden, überqueren wir eine waschechte Hängebrücke. Ich finde dass mein Hintermann es nicht so übertreiben muss mit dem Gehüpfe. Als ich auf der anderen Seite bin, sehe ich, dass alle brav warten und überhaupt keiner auf der Brücke rumspringt. Faszinierend, und hat sicherlich irgendetwas mit Physik zu tun.
Unser Lagerplatz am Fluss wartet mit einer Privatinsel und einem grandiosen Schauspiel aus Abendsonne und Wolken, später auch einem Regenbogen auf. Während wir auf unser Essen warten, fangen die Mücken schonmal an und lachen herzhaft über unser eifrig versprühtes Abwehrmittel. Wir lachen mit ihnen und erschlagen sie dann per Hand.
Auf der Suche nach einer geeigneten Badestelle durchstreife ich die Büsche, die in der Umgebung wachsen und folge dem Flusslauf. Weil der Boden zwar kniehoch zugewachsen, aber keinesfalls eben ist, tritt man gerne mal ins Leere und kommt ins Schwanken. Da ich Waschzeug in den Armen und außerdem keine Lust mehr auf schnelle Bewegungen habe falle ich um wie ein Baum, mitten rein in die Botanik. Und wenn man einmal kopfüber in einer solchen Hecke liegt, kommt man so schnell auch nicht wieder raus. Ich hätte mich ausschütten können vor lachen. Es hat so einen Spaß gemacht! Keine Krabbelviecher, die einen sofort überfallen, keine spitzen Äste, kein Dreck, sondern jede Menge weiches Moos und Laub. Da fällt man einfach gerne rein. Aber da ich mir ja vorgenommen hatte, waschen zu gehen, verlasse ich meine spontanen Liegeplätze dann schweren Herzens und sehr umständlich wieder. Und falle gern drei Schritte weiter wieder um. So viel Naturverbundenheit! Ich freue mich, als ich später endgültig in den Schlafsack fallen kann.





Samstag, 24. September 2016

Norwegen-Report I

22. August, irgendwann am Nachmittag, ich sitze im krachend vollen Flugzeug von Bergen nach Kopenhagen. Von links muss ich mir anhören, wie der ca. zehnjährige aber neunmalkluge Sohn einer deutschen Vorzeigefamilie am Entwurf seines ersten Buches feilt. Der Spannungsbogen steht schon grob, immerhin. Die ellenlangen Sicherheitsbelehrungen der abgenervten Stewarts sind überstanden, wir sind mittendrin im Startmanöver - und ein kleiner Junge rennt quer durch den Gang zu Papi. Über das Bordmikrofon wird er vom Chef-Stewart scharf zurückgepfiffen. Da der Junge offensichtlich arabisch ist, darf ich in den nächsten Minuten zusätzlich zu den literarischen Ergüssen von links den fremdenfeindlichen Reden eines Mittvierzigers + Kompanen von rechts lauschen (natürlich auf deutsch, es gibt hier nur Deutsche!!). Es ist stickig, warm, ich habe Kopfschmerzen. Warum bin ich hier, wo ich vor ein paar Tagen doch noch in paradiesischer Stille von umwerfender Landschaft umgeben war und die einzige Herausforderung manchmal darin bestand, nicht aus lauter Verfressenheit mehr Müsliriegel zu vertilgen als für den Tag rationiert?

Genau eine Woche vorher standen wir in Tegel am Flughafen in der Schlange vor dem Check-in und husteten uns dumm und dämlich, genauso wie alle anderen um uns herum. Die Palette reichte von vornehm hüstelnd bis besorgniserregend geräuschvoll nach Luft schnappend. Ich atme einfach nicht mehr und bin das Problem los. Easy. Welche Abgase da genau für einige Minuten die Luft durchzogen werden wir wohl nie erfahren, aber es war uns auch total egal. Der Urlaub fing an, endlich! Nach monatelanger Vorfreude, einem Großeinkauf bei Kaufland (Wieso ist mit ein paar Müsliriegeln, Babybrei und Haferflocken der Wagen voll und die Kasse steht bei 65 Euro 13?) und den kalten Füßen am Vorabend (Bin ich wirklich fit genug? Habe ich alles? Noch könnte ich absagen. Wird es nicht gefährlich?) waren wir doch komplett angetreten und uns sicher, dass uns wieder ein spektakuläres Outdoor-Abenteuer bevorstand. Sowas von!

Und so betraten wir am Abend norwegischen Boden.


Die gesamte Reise war mehr als kompetent geplant, daher hatten wir natürlich Tickets für einen Shuttlebus und Betten im Hostel gebucht. Dort nutzten wir die Chance, noch einmal in einer ordentlichen Küche zu kochen, das Gepäck neu zu verteilen und am Ende die Rucksäcke zu wiegen (für manche eine bittere Erkenntnis). Schlussendlich die letzte ordentliche Dusche und dann ab ins ordentliche Bett. Im Schlafsaal, mit 30-40 anderen Menschen.
Da fing das Abenteuer schon an. Auch wenn es für die Menge an Leuten sehr sehr leise war, irgendein Geräusch gibt es immer, und wer da nicht abschalten kann sondern ständig überlegt, was das nun wohl wieder war und wo es herkommt und wann es aufhört hat die Nacht über gut zu tun. Vor allem wenn zu sehr fortgeschrittener Stunde, wenn sich dann doch endlich mal alle weitestgehend eingerichtet und aufs schlafen eingestellt haben, fünf Russen anreisen, einzeln durch die laut zuschlagende und quietschende Tür kommen, mit schweren Schritten quer durch den Schlafsaal schreiten und dann eine angeregte Unterhaltung starten. Ich quälte mich also doch nochmal hoch zu meinem Rucksack und kramte nach meinen Ohropax. Dann war Ruhe.

Der erste echte Wandertag begann früh und richtig schön mit Brot (zu diesem Zeitpunkt reichte ein Brot noch für fünf Personen), Frischkäse und Marmelade auf der Dachterasse des Hostels. Außer uns war dort noch niemand um die herrliche Kulisse zu bestaunen. Dazu ein Becher Kaffee - perfekt, ich war mit der Welt so richtig im Reinen.
Ein paar Stunden später sah das ganz anders aus. Es ist schon so, wenn du an deinem Urlaubsort japanische Touristen triffst, dann bist du im Prinzip verloren. Zumindest, wenn dir Einsamkeit und Ruhe wichtig sind. Wo japanische Touristen sind, da gibt es noch jede Menge andere Touristen und vor allem eine Sehenswürdigkeit, die sie anzieht. In diesem Fall die Trolltunga, jene Felsformation die diese ganzen Wanderurlaube vor drei Jahren im Prinzip überhaupt erst in die Wege geleitet hatte. Die Fotos der Leute, die ihre Beine über dem 800m tiefen Abgrund baumeln lassen, sind im Internet so bekannt dass mittlerweile 40.000 wagemutige Individualisten jährlich dort hinpilgern. Dabei ist es gar nicht so ohne - bei der perfekt ausgeschilderten "Tagestour" sind 23 Kilometer Distanz und 900 Höhenmeter zu bewältigen. Kein Hindernis für vor allem junge Erwachsene aus aller Welt, um DAS Foto zu schießen.

Weil wir die erste Hälfte des Tages noch damit beschäftigt waren, mit Bus, Fähre und zu Fuß zu dem großen Parkplatz am Fuß des Berges zu gelangen, waren wir als wir am Nachmittag diesen perfekt ausgeschilderten Weg antraten mit unserer Marschrichtung relativ allein, denn wer die Tour an einem Tag schaffen will beginnt sie sehr früh. Also wollten all die Wanderer denen wir begegneten abwärts. Wir waren permanent damit beschäftigt, ihnen aus dem Weg zu springen, was man mit Vorsicht machen musste denn wir bewegten uns auf unzuverlässigem Schlamm.
Anfangs bedankte man sich in seinem jugendlichen Leichtsinn noch bei jedem, der einem Platz machte oder wartete, und erwartete es genauso von anderen. Der Zahn wurde einem schnell gezogen, denn da diese Begegnungen zweier Wandersleut im Halbminutentakt stattfanden, hatte man schnell keine Lust mehr auf das ständige "Thank you" sondern brütete lieber still vor sich hin, im Geiste auf all die 3000 Leute schimpfend, die an diesem Tag bei schrecklich gutem Wetter die selbe Idee gehabt hatten. Die meisten von ihnen trugen kleine Tagesrucksäcke und sprangen entsprechend leichtfüßig den Weg entlang, während man selbst unter einer 13 - 19 Kilo schweren Last ächzte und sich permanent fragte, was man da bloß alles eingepackt hatte. Am schlimmsten waren aber diejenigen, die zum entspannten Lächeln im schweißfreien Gesicht auch noch Jeans und T-Shirt trugen. Wenn ihr uns schon die Illusion nehmt, hier etwas Besonderes und Einzigartiges zu machen, dann habt doch wenigstens den Anstand genauso verlottert auszusehen wie wir!!!

Als wir uns ein paar Stunden später bei untergehender Sonne den ersten Zeltplatz suchten, war der Wanderstrom schon wesentlich dünner geworden (wir bestimmt auch). Es war eine neue Erfahrung, in Sichtweite von ca. 6 anderen Zelten das Lager aufzuschlagen, aber ich fand es auch beruhigend. Ein bisschen gruselig ist es immer, mitten in der Wildnis zu campen, bei einbrechender Nacht. Da sind ein paar Nachbarn ausnahmsweise mal gar nicht verkehrt.
Und dann gab es endlich wieder ein richtiges Bergessen, Kräuter der Provence, dazu Nudeln mit Rahmsoße. Zum waschen ging es an einen eiskalten Bergsee und zum einschlafen gab es einen wärmenden Schluck aus der Colaflasche, an der zumindest außen Cola dranstand. Um das Ganze perfekt zu machen war es nicht nur ein sehr lauer Abend, sondern es schien auch noch ein krasser Vollmond, der sich in diversen Bächen und den umliegenden kleinen Seen spiegelte und es gar nicht richtig dunkel werden ließ. Mensch Norwegen, das ist ja wirklich herrlich hier bei dir!

Alle Utensilien für das perfekte Dinner


Der nächste Tag begrüßte uns mit ebenso strahlendem Sonnenschein wie sein Vorgänger. Als ich meinen Rucksack gepackt hatte hatte ich den Gedanken an Sonnencreme sofort verworfen. Das ist ja albern, dachte ich, Sonnencreme in Norwegen! Ha, ha. Liebe Berliner, wenn ihr mal die Sonne sehen wollt, fahrt doch nach Skandinavien. Ich habe mir jedenfalls den ersten und einzigen Sonnenbrand des Jahres an diesem Tag geholt und hatte ab sofort den Teint einer Verkehrsampel ohne Grünphase.
Mittags erreichten wir sie, diese Trolltunga. Und wir stellten uns an. Nicht weil wir von Ossis abstammen, sondern weil da oben so die Regeln sind. Natürlich möchte niemand auf DEM Trolltunga-Foto die Menschenmengen drauf haben die sich tatsächlich dort oben tummeln, sondern die Illusion völliger Wildnis und Abgeschiedenheit aufrecht erhalten. So erhält jeder nach einer Wartezeit von nur 30 Minuten die Chance, sich ganz allein auf die Zunge zu begeben um von allen beobachtet zu posieren. Sind die Fotos im Kasten hat man sich möglichst zügig wieder zu entfernen und Platz für den nächsten zu machen. Ein reibungsloser Ablauf, getaktet wie die Berliner Ringbahn und irgendwie wahnsinnig grotesk. Aber es funktioniert, und seit die Trolltunga zur Touristenattraktion geworden ist ist immerhin bis jetzt nur eine Person abgestürzt. Das ist erstaunlich, denn so manchem ist eindeutig das Prädikat "lebensmüde" zu verleihen. Aber was tut man nicht alles für DAS Foto. Als Elternteil schickt man übrigens gern auch seine lieben Kleinen an den Abgrund. Ist ja immerhin eine einmalige Gelegenheit. Die Leute sind so bekloppt! Wir reihen uns nahtlos ein und machen natürlich unsere Fotos. Wenn man schon mal da ist.

Alle bekloppt!
Dann verlassen wir diesen ausgetrampelten Pfad und sind nach 20 Metern prompt zu fünft alleine. Ab sofort treffen wir niemanden mehr und überqueren bald unser erstes Schneefeld. Mitten in der größten Hitze! Noch sind wir fasziniert vom Schnee, bald wird er uns zum Hals raushängen. Auf dem Weg finde ich nebenbei einen schönen, durchsichtigen Stein, hebe ihn auf und nehme ihn mit. In den folgenden Tagen klebt Max mit seinen Augen quasi am Boden, bückt sich zig Mal, wird sich mit einem der Steine das Handydisplay zerhauen und am Ende doch kein Souvenir finden, das auch nur ansatzweise so schön ist wie meins. Ach, vielleicht findste ja in Berlin mal nen schönen Kronkorken.

Kurz vor dem Ende dieser Etappe kommen wir ziemlich fertig, sonnenverbrannt und schwitzend an einer Hütte vorbei, an der uns der urige Wirt erzählt, dass es die Woche zuvor noch ununterbrochen geregnet/geschneit habe und eine dicke Schneeschicht lag. Was haben wir für ein "Glück"! Im Leben hätte ich mir nicht träumen lassen, dass wir so gutes Wetter erwischen würden.
Ein bisschen später finden wir den perfekten Zeltplatz an einem See, gegenüber einer riesigen Schneewand die aussieht wie Rauhfasertapete. Wieder ist es ein lauer, warmer Abend, wir können noch lange den Sonnenschein beim Zeltaufbauen, kochen und waschen genießen. Als sich die Sonne am Ende doch verabschiedet, tut sie das mit einem Paukenschlag und in einem famosen Zusammenspiel mit der im See reflektierten Berglandschaft. Einfach sauschön! Zum Glück fehlt am Ende nur noch ein Schluck aus der Colaflasche (ich sag ja gar nicht, dass Cola drin war), den wir ausnahmsweise nur zu dritt nehmen. Die anderen beiden haben noch überschüssige Energie um die Gegend zu erkunden. Bevor wir dann ins Zelt kriechen, stellen wir die Flasche neben den mit Schnee gefüllten Kochtopf, in dem wir geschmolzene Schokolade und sich bereits bedenklich verfärbte Salami wieder aufpäppeln. Als wir die beiden später wiederkommen hören, rufen wir ihnen aus dem Zelt zu: "WIR HABEN SCHON GETRUNKEN, FLASCHE STEHT NEBEN DEM KÜHLSCHRANK!" Zu genau diesem Zeitpunkt kommt noch eine andere Gruppe Wanderer an unserer Lagerstätte vorbei. Was die sich dann dazu dachten war uns egal, wir schlummerten selig ein ... um mitten in der Nacht aus unserem wohlverdienten und dringend notwendigen Tiefschlaf gerissen zu werden. Max hatte den Vollmond entdeckt.
Ja. Jaha, ist doch gut. Na dann fotografier ihn doch. Mensch. Ne, ich weiß auch nicht wie du den jetzt besser drauf kriegst. Dann ist er halt unscharf. Ja, sieht krass aus. Lass mich schlafen, das ist nur ein beschissener Mond!!! Mach die Tür zu! Mann ...

Kühlschrank