Sonntag, 1. September 2019

Als ich einmal tough war

Mein erster Ausflug hier in Oslo führte mich und die beiden geliebten Brüder auf den Holmenkollen – einem Berg dessen Skischanze Norwegens meistbesuchteste Touristenattraktion und eine der bekanntesten Sportstätten der Welt ist. Wir waren begeistert von der Aussicht die sich auf den Oslofjord bot und stapften einige Kilometer durch tiefen Schnee.

Gestern stand ich wieder dort, schwitzend statt frierend, zusammen mit vielen verrückten Leuten und vielen Ängsten. Eine Zusammenfassung von meinem jüngsten Abenteuer hier im Norden.

Schon viele Male habe ich auf Instagram, Facebook & Co. Bilder von völlig fertigen, dreckigen, wahnsinnig und glücklich aussehenden Menschen gesehen die quasi mit letzter Kraft ihre "Toughest"-Medaille hochhalten. Der "Toughest" ist ein berühmt berüchtigter Hindernislauf der in mehreren Ländern ausgerichtet wird. Als sich die Möglichkeit über Making Waves bot, dort teilzunehmen, habe ich die Chance begeistert ergriffen, ohne, wie so oft, ausgiebiger darüber nachzudenken. Außerdem war das Datum zum Zeitpunkt der Anmeldung viele Monate weit weg, und seinem zukünftigen Ich mutet man ja gerne mal allen möglichen Schwachsinn zu.

Ich bin allerdings nicht gut im Verdrängen, weshalb ich früher meine Hausaufgaben gerne direkt im Flur schon erledigt habe damit sie "weg" sind. Auch diesen Lauf konnte ich nicht gänzlich verdrängen und geisterte all die Monate ungemütlich in meinem Hinterkopf.

Deswegen war ich gestern Morgen sehr froh, diese Sache endlich angehen zu können. Hätte ich gewusst, was genau kommt, wäre ich wahrscheinlich nicht aufgestanden. Aber so habe ich mein Bett frisch bezogen, um mich für den Abend auf etwas freuen zu können, schlüpfte in mein Making Waves T-Shirt und nahm ein kräftiges, aber möglichst wenig Probleme bereitendes Frühstück zu mir.

In der Bahn freute ich mich wie Bolle. Bei jedem Berlin-Marathon beäugte ich neidisch all die Sportlichen, die sich auf ihrem Weg zum Start in den Bahnen sammelten und voller Nervosität und Stolz die Ehrfurcht ihrer "normalen" Mitreisenden genossen.
Jetzt gehörte ich selbst zu dieser Gruppe verrückter Menschen, die sich von anderen Wanderern, Pilzesammlern und Touristen deutlich abhob. Ich war auf dem Weg, mich laut "Toughest"-Website, "physisch, psychisch und mental mit über 40 Hindernissen" herauszufordern und etwas zu tun, was ich noch nie zuvor getan hatte.
Den späteren Teil dieses Textes auf der Website, "dich erwarten Hindernisse wie Monkeybars und Seile mit verschiedenen Kombinationshindernissen, sowie Wasser und große Höhen" habe ich nicht gelesen. Hätte ich mal!


Die Nervosität steigerte sich natürlich, als wir uns als Gruppe zusammenfanden, aufwärmten und schließlich kurz nach eins endlich loslaufen durften. Und dann stellte ich beim ersten Hindernis bestürzt fest, was die eigentliche Herausforderung werden würde. Höhe. Ich hatte einen sehr schmalen Balken mithilfe meiner Kollegen erklommen, und nun sollte ich ihn auf der anderen Seite herunterspringen. Mein Puls raste, meine Hände waren nass, ich zitterte und schwankte dort oben, sicher dass ich nach unten kommen würde, unsicher ob fallend oder kontrolliert.
Und dann kam meine Freundin mir zur Hilfe, machte ihre Hände zum Trittbrett und ermöglichte einen langsamen Abstieg. Wir rannten weiter – zu einem 4 Meter hohen Turm von dem aus ins Wasser gesprungen werden sollte. So ging es immer weiter.

Knapp zweieinhalb Stunden lang jagte bei düsterem, wolkenverhangenem Himmel ein Schrecken den nächsten. Ich kam aus dem Zittern nicht mehr heraus und wünschte mir inständigst, heil am anderen Ende dieser selbstauferlegten Prüfung herauszukommen. Schlussfolgerung: ich hatte das Ganze gründlich unterschätzt! Von Höhe war nie die Rede gewesen.

Nebenbei hat es aber tatsächlich auch Spaß gemacht. Wir waren ein Team, und ohne die Hilfe unserer männlichen Kollegen hätten viele von uns zarten Mädels die Ziellinie nicht erreicht. Aber sie waren da, und ich hätte jedes Mal vor Dankbarkeit in Tränen ausbrechen konnte wenn man mich am oberen Ende eines Hindernisses auffing und hochzog, auf den Schultern das Hangeln von Ring zu Ring ermöglichte oder man sich auch gegenseitig einfach nur mit einem netten Wort ermunterte und motivierte.

Ich überwindete meine Angst unzählige Male. Ich vertraute meinem Team. Ich lernte, dass es möglich ist sich einfach in den Dreck zu schmeißen und unter Netzen entlang zu robben, in voller Montur durch einen eiskalten See zu schwimmen oder faultiermäßig von unten einen hängenden Balken entlangzuhangeln. Dass ich (ein bisschen) Kraft habe, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, Unangenehmes auszuhalten.
Es war gut zu sehen, dass es diese Seite noch gibt, neben dem routinierten, glattpolierten vernünftigen Erwachsenen der sich verlässlich jeden Wochentag ins Büro begibt.

Trotzdem bleibt eine drängende Frage: Warum?! Freiwillig? Sowas?
Weil sich die Möglichkeit bot. Um öfter Ja zu sagen. Eine neue Erfahrung zu machen. Für das Gefühl danach. Um es von der Lebens-To-do-Liste zu streichen. Zu sehen, wie fit man wirklich ist. Davon zu erzählen.
Ich weiß es nicht genau. Es muss der selbe Grund sein, aus dem man sich mehrfach in die Berge begibt um dort unter Strapazen und in einfachsten Verhältnissen ein paar Tage umher zu spazieren. Es ist einfach gut, ab und zu etwas zu tun, was weit entfernt vom Alltag ist.

Das Rennen zog sich sehr. Als ein Schild proklamierte, dass 2 Kilometer von den 8 geschafft sind, erschrak ich. Es hatte sich so angefühlt, als hätte man schon sehr viel geschafft, und dabei war es erst ein Viertel. Gegen Ende hatte ich wirklich keine Lust mehr, auf dem Boden herumzukriechen, und keine Kraft mehr mich wieder einer Höhenangst-Situation zu stellen. Ich wurde müde, die Füße scheuerten in den vom See nassen Schuhen, die Gelenke taten weh vom reißen, stemmen, tragen, hängen, springen.

Und dann kam doch noch ein Highlight, zumindest für alle anderen. Meine Freundin musste sich vor Lachen für einen Moment setzen, als ich ihr völlig fassungslos mitteilte, dass meine Hose komplett zerfetzt war. An einem der letzten Hindernisse, bei dem man mehrere Absätze aus mit Draht umspannten Geröll herunterspringen musste, war ich gleich zweimal hängen geblieben. Ein leichtes Ziehen, ein kaum hörbares Geräusch und plötzlich war der Hintern ein bisschen kälter. Wat nu?
Es war Kilometer 7, die Zuschauer drängten sich am letzten Absatz und der genau beobachtete Sprint hoch auf "Norwegens meistbesuchteste Touristenattraktion", also 150 Meter Skischanze mit 35 Grad Steigung trennten mich von meinem Rucksack und meinen trockenen, heilen Klamotten. Eine Szene, so absurd und unvorhergesehen dass sie mir in noch keinem Alptraum begegnet ist, aber gut und gerne dort vorkommen könnte. Andererseits war ich kaputt, das Ziel in Sicht und mir eigentlich schon seit einer halben Stunde ziemlich viel egal. Ich zog mein T-Shirt weit nach unten und machte mich an die nächste Aufgabe, zwei 20kg schwere Kanister von A nach B zu schleppen. Ich musste feststellen, dass diese Lösung keine gute war, und so blieb mir letztendlich nur übrig mein T-Shirt als Deckmantel hinten in die Hose zu stecken und so zu tun, als hätte ich vor lauter sportlicher Euphorie und Hitze die Entscheidung getroffen, die letzten Meter in einem knappen Sport-Top zu meistern. Augen zu und durch, oder zumindest keinen Blickkontakt mehr. Unter diesen Voraussetzungen sprintete ich die Schanze hoch ohne die Steigung weiter zu registrieren, überholte alle die keuchend vor mir krabbelten und nahm kaum wahr, wie man mir meine Medaille um den Hals hängte. Es war vorbei, plötzlich und unerwartet. Erleichterung, Freude und Stolz kamen dann doch, als ich mich zum ersten Mal seit gefühlten Jahren hinsetzte und feststelle, dass ich mich nun nicht mehr ungesichert auf irgendwelche hohen Konstruktionen begeben musste.



Die obligatorischen Siegerfotos wurden geschossen, und dann konnte ich endlich in meine trockene und heile Hose. Es blieb nur noch übrig, uns in einem Restaurant gegenseitig zu feiern und die erlebten Stories zu teilen.


Heute, am Tag danach, tut mir natürlich alles weh. Meine Knie und Unterarme sind blau und aufgeschürft, Muskelkater ist überall. Ein schönes Gefühl.

Ich bin froh, dass dieses Rennen geschafft ist und raus aus meinem Hinterkopf. Ich bin froh, es gemacht zu haben, und so viel Teamgeist und Miteinander zu erleben. Und ich bin sehr dankbar, mich nicht verletzt zu haben, Möglichkeiten dafür und Unfälle gab es auf der Strecke viele.

Die Episode ist also zufrieden abgeschlossen und abgehakt. Ob ich das nochmal mache? Ich weiß ja nicht ...