Zu dieser weitreichenden Erkenntnis musste ich heute ganz zweifellos kommen. Gute Ansätze hatte ich durchaus gezeigt. Bei über 30 Grad zu einer langen Jeanshose zu greifen, wäre mir in Deutschland nie eingefallen. Genauso wie ich es mir bei 22 Grad am Morgen nicht getraut hätte, zu frieren (und eine warme Jacke zu holen).
Meine
Geschmacksnerven sind mittlerweile komplett auf Haiti eingerichtet. Reis mit
Bohnen, Mais mit Bohnen, Aracon (Trockenfisch): jedes Mal ein Genuss. Dazu diese
ganzen Früchte. Ich hatte gedacht, ich kenne alle Geschmäcker. So, wie man alle
Farben kennt. Man kann sich zwar vorstellen, dass es noch Mischfarben gibt, die
man so noch nicht gesehen hat, aber im Großen und Ganzen – gibts nichts Neues
mehr. Doch! Gestern gab es Advocado. Es ist mir völlig unmöglich, diesen
Geschmack zu beschreiben. Einerseits wie Kräuterquark. Dann wie saure Gurke.
Ein bisschen butterig, eine Prise süßlich. Oder säuerlich? Es ist einfach nicht
zu erklären!
Oder Corosol.
Die hässlichste Frucht, die ich jemals gesehen habe. Wie eine übergroße
Kartoffel mit Stacheln. Und eine der leckersten Früchte, die ich jemals
gegessen habe! Den Geschmack konnte ich mit Erdbeer-Fruchtzwergen ziemlich gut
vergleichen.
Mangos. Auf
jeden Fall süß, aber mit einer besonderen Note. Ebenso unmöglich zu
beschreiben, aber komplett unterschiedlich zu den Mango-Joghurts, -Bonbons und was man
bei uns noch so hat. Ich frage mich, was sie da reinmixen.
Ich schweife
zu sehr in die Küche ab. Die ist eben einfach richtig gut! Lediglich die
Notwendigkeit für das viele Öl und dass zusätzlich an jedes Essen noch „Kochbutter“
rangemacht wird, erschließt sich mir nicht ganz.
Das führt zur
nächsten Sache, die mich einfach ungeeignet zum Haitianer machen. Das
Schönheitsideal hier könnte ich wohl nie übernehmen: je dicker der Bauch und
der Hintern, desto schöner! Das ist so komplett gegen das, was man von kleinauf
bei uns suggeriert bekommt. Bei uns wird der Bauch eingezogen, und mit
Klamotten vorteilhaft kaschiert. Hier wird der Bauch extra betont und stolz
herausgestreckt. Am besten ist das T-Shirt nicht nur eng, sondern auch zu kurz,
sodass er unten herausguckt. Wunderschön!
Einige
verinnerlichten Tugenden machen mich schließlich ganz Deutsch. Halb drei heißt
bei uns halb drei, und wer 20 vor 3 kommt wird mit bitterbösen Blicken bedacht
(in ganz Deutschland. Ganz Deutschland? Nein! Im Süden gibt es ein kleines Dorf
mit Namen Baden...). Halb drei heißt in Haiti drei, und 3 Uhr 50 ist auch noch 3.
Immer schön gelassen bleiben!
Außerdem muss
ich gestehen, dass ich an dem Punkt in meinem Leben gekommen bin, wo ich ein
bisschen Ruhe und Stille mal genieße. Ab nun geht es abwärts mit mir...
Stille ist für
Haitianer eine unerträgliche Situation, der sofort Abhilfe geschaffen werden
muss. Am besten mit schlecht empfangener Radiomusik aus dem Handy. Umso besser,
wenn der Nachbar die gleiche Idee hatte. Doppelbeschallung! Schon viel besser.
Bei Ruhe
schlafen? Das kann doch jeder. Nette Nachbarn machen die langweilige Ruhephase
zu einer Herausforderung, indem sie sich telefonierend oder Musik hörend vor
dein Fenster setzen, lautstark vor deiner Hoftür diskutieren und die Kinder
noch lange nach 22 Uhr ihr Mitteilungsbedürfnis ausleben lassen. Dieses
ungleiche Duell verlieren Ohropax kläglich und auf ganzer Linie.
Der Gipfel
meiner haitianischen Inkompetenz war mein gestriger Versuch zur
Völkerverständigung, angefeuert von grenzenloser Abenteuerlust und großer
Dummheit.
Ich wollte
mich optisch meiner freundlichen Zimmernachbarin annähern und meinen in drei Monaten
völlig außer Rand und Band geratenen Haaren etwas haitianischen Charme
verleihen.
Dafür
benötigte es Alanges (künstliche Haare), kleine Gummis und eine sehr geduldige Nachbarin, die mir
im Moment schrecklich Leid tut.
Ein paar
Haarsträhnen mit dieser künstlichen Haarpracht zu verflechten wird bestimmt
nicht lange dauern. Schon eine Stunde nach Beginn der Prozedur fing ich an,
meine Entscheidung zu bereuen. Die Differenz zwischen dem Ist- und Soll-Zustand
betrug nicht sehr viel weniger Haare als zu Beginn. Tapfer flocht die holde
Maid aber weiter mein (seltsam gelbes, unten dunkles, glattes, rutschiges)
Haar. Während es draußen dunkel wurde, ich schwitzte wie ein Affe und unruhig
auf dem Holzhocker hin- und herrutschte, arbeitete sie sich Stück für Stück
voran. Ich erschrak zutiefst, als ich spürte, dass die fertigen Haarteile
plötzlich über meine Schulter gingen. Längere Haare standen nicht auf dem
Zettel! Wo kommen wir denn da hin. Zu meiner Erleichterung schnitt sie die dann
auf eine akzeptable Länge ab (die künstlichen Haarteile! Meine Haare hörten
viel weiter oben auf). Und so schritt die Zeit voran, immer wenn sie eine neue
Strähne flechtete (flicht? flocht?) dachte ich an Zitrone, um mich abzulenken
von diesem Schmerz (der Trick funktioniert nicht).
Irgendwann
hatten wir aber beide genug. Drei Stunden hat es schon gedauert, das Werk
sollte am nächsten Tag vollendet werden.
Ich kam mir
beschissen aussehend vor, aber zurück ging ja nun auch nicht mehr. Oder?
Die Nacht
wurde sehr unangenehm. Jedes Mal wenn ich mich auf diese (unglaublich
festen!!!) Strähnen legte, fühlte es sich an als würde jemand mit sehr viel
Entschlossenheit an diesen Haaren ziehen. Das ging überhaupt nicht. An der
Seite waren die Haare noch nicht geflochten, da ließ es sich drauf zu liegen
aushalten. Wie sollte das am nächsten Tag werden, wenn dieser Teil meines
Kopfes auch verarbeitet war?
Viel zu früh
und brodelnd vor Wut auf mich selbst und den Rest der Welt war ich heute wach.
Meine Kopfhaut spannte wie verrückt, als zöge ständig jemand an jedem einzelnen Haar, und ich fragte mich, ob diese
Verschönerung ursprünglich als religiöses Ritual zur Selbstmarterung gedacht
war. Allerdings ist es so, dass die Kinder hier schon von klein auf daran
gewöhnt werden. Den Leuten tut es wohl nicht mehr weh. Dann kommt so ein
Europäerweib dahergelaufen und denkt, das könnte es auch!
Die Sache nahm
heute Morgen um neun ein unspektakuläres Ende. In aller Stille wurde die ganze
Sache wieder aufgetrennt. 3 Stunden Arbeit für den Hintern, aber wie atmete ich
auf als es geschafft war! Meine Haare sahen aus wie Griff in
die Steckdose, aber nach einer Haarwäsche (bei der glücklicherweise auch das in
die Haare mitverflochtene Parfüm der Dame wich) waren sie wieder die Alten. Und
ich habe garnichts mehr an diesem unförmigen Strubbelkopp auszusetzen.
Als ich mich heute
Mittag niederbettete, um in dieser Nacht Versäumtes nachzuholen, machte sich
tiefe Erleichterung in mir breit, als ich meinen Kopf völlig schmerzfrei in
Verbindung mit dem Kissen brachte. Und dann war ich auch schon eingeschlafen.
gruselige Utensilien - Alanges, künstliche Haare |
Scheiße aussehen auf ein neues Level gebracht. Es kann ja nicht immer alles klappen. |
Steckdosenstyle |
Sehr langer
Rede äußerst kurzer Sinn: man müsste nicht immer alles ausprobieren (die
Erkenntnis hätte ich schon aus so vielen anderen Eskapaden ziehen müssen. Mama
wird sich an derlei verschiedene erinnern...), es sieht nicht immer alles so
leicht aus wie es scheint und ich bin eindeutig ziemlich Deutsch veranlagt, in
allen Bereichen. Das abschließende Wort zum Donnerstag: Ich freue mich auf
meine Heimat!