Donnerstag, 21. März 2013

Ich werde nie ein guter Haitianer sein


Zu dieser weitreichenden Erkenntnis musste ich heute ganz zweifellos kommen. Gute Ansätze hatte ich durchaus gezeigt. Bei über 30 Grad zu einer langen Jeanshose zu greifen, wäre mir in Deutschland nie eingefallen. Genauso wie ich es mir bei 22 Grad am Morgen nicht getraut hätte, zu frieren (und eine warme Jacke zu holen).
Meine Geschmacksnerven sind mittlerweile komplett auf Haiti eingerichtet. Reis mit Bohnen, Mais mit Bohnen, Aracon (Trockenfisch): jedes Mal ein Genuss. Dazu diese ganzen Früchte. Ich hatte gedacht, ich kenne alle Geschmäcker. So, wie man alle Farben kennt. Man kann sich zwar vorstellen, dass es noch Mischfarben gibt, die man so noch nicht gesehen hat, aber im Großen und Ganzen – gibts nichts Neues mehr. Doch! Gestern gab es Advocado. Es ist mir völlig unmöglich, diesen Geschmack zu beschreiben. Einerseits wie Kräuterquark. Dann wie saure Gurke. Ein bisschen butterig, eine Prise süßlich. Oder säuerlich? Es ist einfach nicht zu erklären!
Oder Corosol. Die hässlichste Frucht, die ich jemals gesehen habe. Wie eine übergroße Kartoffel mit Stacheln. Und eine der leckersten Früchte, die ich jemals gegessen habe! Den Geschmack konnte ich mit Erdbeer-Fruchtzwergen ziemlich gut vergleichen.
Mangos. Auf jeden Fall süß, aber mit einer besonderen Note. Ebenso unmöglich zu beschreiben, aber komplett unterschiedlich zu den Mango-Joghurts, -Bonbons und was man bei uns noch so hat. Ich frage mich, was sie da reinmixen.
Ich schweife zu sehr in die Küche ab. Die ist eben einfach richtig gut! Lediglich die Notwendigkeit für das viele Öl und dass zusätzlich an jedes Essen noch „Kochbutter“ rangemacht wird, erschließt sich mir nicht ganz.
Das führt zur nächsten Sache, die mich einfach ungeeignet zum Haitianer machen. Das Schönheitsideal hier könnte ich wohl nie übernehmen: je dicker der Bauch und der Hintern, desto schöner! Das ist so komplett gegen das, was man von kleinauf bei uns suggeriert bekommt. Bei uns wird der Bauch eingezogen, und mit Klamotten vorteilhaft kaschiert. Hier wird der Bauch extra betont und stolz herausgestreckt. Am besten ist das T-Shirt nicht nur eng, sondern auch zu kurz, sodass er unten herausguckt. Wunderschön!
Einige verinnerlichten Tugenden machen mich schließlich ganz Deutsch. Halb drei heißt bei uns halb drei, und wer 20 vor 3 kommt wird mit bitterbösen Blicken bedacht (in ganz Deutschland. Ganz Deutschland? Nein! Im Süden gibt es ein kleines Dorf mit Namen Baden...). Halb drei heißt in Haiti drei, und 3 Uhr 50 ist auch noch 3. Immer schön gelassen bleiben!
Außerdem muss ich gestehen, dass ich an dem Punkt in meinem Leben gekommen bin, wo ich ein bisschen Ruhe und Stille mal genieße. Ab nun geht es abwärts mit mir...
Stille ist für Haitianer eine unerträgliche Situation, der sofort Abhilfe geschaffen werden muss. Am besten mit schlecht empfangener Radiomusik aus dem Handy. Umso besser, wenn der Nachbar die gleiche Idee hatte. Doppelbeschallung! Schon viel besser.
Bei Ruhe schlafen? Das kann doch jeder. Nette Nachbarn machen die langweilige Ruhephase zu einer Herausforderung, indem sie sich telefonierend oder Musik hörend vor dein Fenster setzen, lautstark vor deiner Hoftür diskutieren und die Kinder noch lange nach 22 Uhr ihr Mitteilungsbedürfnis ausleben lassen. Dieses ungleiche Duell verlieren Ohropax kläglich und auf ganzer Linie.

Der Gipfel meiner haitianischen Inkompetenz war mein gestriger Versuch zur Völkerverständigung, angefeuert von grenzenloser Abenteuerlust und großer Dummheit.
Ich wollte mich optisch meiner freundlichen Zimmernachbarin annähern und meinen in drei Monaten völlig außer Rand und Band geratenen Haaren etwas haitianischen Charme verleihen.
Dafür benötigte es Alanges (künstliche Haare), kleine Gummis und eine sehr geduldige Nachbarin, die mir im Moment schrecklich Leid tut.
Ein paar Haarsträhnen mit dieser künstlichen Haarpracht zu verflechten wird bestimmt nicht lange dauern. Schon eine Stunde nach Beginn der Prozedur fing ich an, meine Entscheidung zu bereuen. Die Differenz zwischen dem Ist- und Soll-Zustand betrug nicht sehr viel weniger Haare als zu Beginn. Tapfer flocht die holde Maid aber weiter mein (seltsam gelbes, unten dunkles, glattes, rutschiges) Haar. Während es draußen dunkel wurde, ich schwitzte wie ein Affe und unruhig auf dem Holzhocker hin- und herrutschte, arbeitete sie sich Stück für Stück voran. Ich erschrak zutiefst, als ich spürte, dass die fertigen Haarteile plötzlich über meine Schulter gingen. Längere Haare standen nicht auf dem Zettel! Wo kommen wir denn da hin. Zu meiner Erleichterung schnitt sie die dann auf eine akzeptable Länge ab (die künstlichen Haarteile! Meine Haare hörten viel weiter oben auf). Und so schritt die Zeit voran, immer wenn sie eine neue Strähne flechtete (flicht? flocht?) dachte ich an Zitrone, um mich abzulenken von diesem Schmerz (der Trick funktioniert nicht).
Irgendwann hatten wir aber beide genug. Drei Stunden hat es schon gedauert, das Werk sollte am nächsten Tag vollendet werden.
Ich kam mir beschissen aussehend vor, aber zurück ging ja nun auch nicht mehr. Oder?
Die Nacht wurde sehr unangenehm. Jedes Mal wenn ich mich auf diese (unglaublich festen!!!) Strähnen legte, fühlte es sich an als würde jemand mit sehr viel Entschlossenheit an diesen Haaren ziehen. Das ging überhaupt nicht. An der Seite waren die Haare noch nicht geflochten, da ließ es sich drauf zu liegen aushalten. Wie sollte das am nächsten Tag werden, wenn dieser Teil meines Kopfes auch verarbeitet war?
Viel zu früh und brodelnd vor Wut auf mich selbst und den Rest der Welt war ich heute wach. Meine Kopfhaut spannte wie verrückt, als zöge ständig jemand an jedem einzelnen Haar, und ich fragte mich, ob diese Verschönerung ursprünglich als religiöses Ritual zur Selbstmarterung gedacht war. Allerdings ist es so, dass die Kinder hier schon von klein auf daran gewöhnt werden. Den Leuten tut es wohl nicht mehr weh. Dann kommt so ein Europäerweib dahergelaufen und denkt, das könnte es auch!
Die Sache nahm heute Morgen um neun ein unspektakuläres Ende. In aller Stille wurde die ganze Sache wieder aufgetrennt. 3 Stunden Arbeit für den Hintern, aber wie atmete ich auf als es geschafft war! Meine Haare sahen aus wie Griff in die Steckdose, aber nach einer Haarwäsche (bei der glücklicherweise auch das in die Haare mitverflochtene Parfüm der Dame wich) waren sie wieder die Alten. Und ich habe garnichts mehr an diesem unförmigen Strubbelkopp auszusetzen.
Als ich mich heute Mittag niederbettete, um in dieser Nacht Versäumtes nachzuholen, machte sich tiefe Erleichterung in mir breit, als ich meinen Kopf völlig schmerzfrei in Verbindung mit dem Kissen brachte. Und dann war ich auch schon eingeschlafen.

gruselige Utensilien - Alanges, künstliche Haare

Scheiße aussehen auf ein neues Level gebracht. Es kann ja nicht immer alles klappen.

Steckdosenstyle
Sehr langer Rede äußerst kurzer Sinn: man müsste nicht immer alles ausprobieren (die Erkenntnis hätte ich schon aus so vielen anderen Eskapaden ziehen müssen. Mama wird sich an derlei verschiedene erinnern...), es sieht nicht immer alles so leicht aus wie es scheint und ich bin eindeutig ziemlich Deutsch veranlagt, in allen Bereichen. Das abschließende Wort zum Donnerstag: Ich freue mich auf meine Heimat!

Sonntag, 3. März 2013

Fußball und Strom



Edith kommt in die Küche, öffnet den Kühlschrank und schließt ihn enttäuscht wieder. „Ach ich dachte, ich hätte Fußball gehört...“

Um diese Begebenheit zu verstehen, müsste man wohl in Haiti wohnen. Oder jemanden haben, der es einem erklärt.
Es geht um Strom. Und der ist hier ein rares Gut. Deswegen verteilt der (staatliche) Energiekonzern EDH ihn nur portionsweise. Einen ganzen Tag Strom? Selten. Es sei denn, es ist etwas Wichtiges. Wie zum Beispiel Fußball. Oder Karneval. Damit das Volk bei Laune bleibt und sowas im Fernsehen verfolgen kann, wird bei diesen Gelegenheiten alles in die Leitungen geschickt was geht. So hatten wir vor zwei Wochen tagelang fast durchgängig Strom wegen Karneval, und neulich auch einige Stunden überraschend zusätzlich, weil „El Classico“, dieses Duell zwischen den beiden spanischen Clubs Real Madrid und Barcelona, ausgetragen wurde. Die Leute hier sind übrigens tatsächlich sehr interessiert am europäischen Spitzenfußball! Nettes Land.
Im Moment ist es so, dass es meistens im Laufe des Abends Strom gibt und der früh morgens wieder abgeschaltet wird. Wann es aber letztendlich wirklich Strom gibt, ich glaube, dafür lässt sich keine zuverlässige mathematische Formel finden. Diese Nacht gab es z.B. keinen Strom. Zur Entschädigung heute Morgen eine Stunde. Das einzig verlässliche an der haitianischen Energieversorgung ist, dass sie irgendwann gekappt wird.

Das wäre alles kein Problem, denn wir haben einen Inverter. Der wird aufgeladen, wenn es Strom von EDH gibt, und sorgt für Licht, wenn EDH es ausschaltet. Allerdings ist der in diesen Tagen kaputt gegangen, und um es auf die Spitze zu treiben auch noch gleichzeitig zum Auto. Für die Reperatur werden alle Bemühungen unternommen, trotzdem sind wir jetzt seit einigen Tagen auf EDH angewiesen und sitzen sonst im Trockenen. Im wahrsten Sinne des Wortes!

Kein Strom, das bedeutet bald kein Wasser in den Leitungen, denn das muss aus der Zisterne hochgepumpt werden. Und schneller als man denkt ist man wieder  in der vorindustriellen Zeit gelandet. Wasserschleppen, Kerzenschein. Der Kühlschrank behält seine Kälte zwar noch eine ganze Weile, aber auch nicht ewig. So selten wie möglich rangehen! Der Herd ist sowieso ein Gasherd. Die Bohnen für die Bohnensoße können eben nicht schnell durch den Mixer geschickt, sondern müssen von Hand zerstampft werden. Und das Schmerzhafteste habe ich ja noch gar nicht erwähnt: kein Strom – kein Internet!

Zum Glück hat man noch einige Asse im Ärmel. Zum Beispiel der Generator, der mal für eine Weile angeschmissen werden kann, allerdings laut ist, stinkt und Benzin verbraucht. Oder das Solarpanel, das man tagsüber in die Sonne stellen kann und dabei eine Batterie auflädt.
Und dann wäscht man sich eben etwas weniger ausgiebig, spült nicht ständig, macht die Solarlampe aus, wenn man den Raum verlässt, und liest ein echtes Buch anstatt im Internet.
Ich will jetzt nicht sagen es würde einem bewusst, dass man auf alle diese technischen Errungenschaften der Neuzeit locker verzichten kann. Aber man kommt auch ohne sie durch den Tag (und die Nacht), UND wenn dann die Lampe im Kühlschrank doch wieder an ist, oder man ein Radio von nebenan hört, oder die Lampe im Nachbarshof brennt, ist die Freude riesengroß, denn das sind die gängigen Indizien dafür, dass es wieder staatlichen Strom gibt.
Und dann fangen die treuen Kirchgänger nebenan wieder an, die Lautsprecher auf volle Leistung zu drehen und man wünscht sich fast wieder die dunkle Stille zurück... ;)

Merkzettel an mich: Strom, Wasser, Internet – wertschätzen! Nicht selbstverständlich. Und NICHT überlebenswichtig. Wer hätte das gedacht!

Nachtrag: Diese Zeilen habe ich gestern Nachmittag offline geschrieben. Erst heute Abend gibt es wieder Strom, und hoffentlich lange genug, damit das hier online geht... Man weiß es alles nicht!