Sonntag, 15. März 2020

PCS

Achtung, dieser Eintrag ist lang. Ich wollte ihn erst veröffentlichen, wenn ich wieder gesund bin. Das war ein längerer Prozess.


Eine Sekunde


Woche 1 – 3


Am 5. Dezember spiegelten sich die Häuser mal wieder auf dem Gehweg. Pures Eis. Da ich in diesem Winter schon einige schmerzhafte Erfahrungen hinter mir hatte, sorgte ich mit Spikes an meinen Schuhen vor. Und ausgerechnet diese verfingen sich unvermutet ineinander, ich stürzte in voller Fahrt auf einem Hang vorwärts. 

Für einen kurzen Moment, höchstens eine Sekunde, war ich nicht ganz da. Dann stand ich wieder auf und ab dann fühlte es sich an, als hätte sich etwas verschoben. Es zwiebelte in meinem Kopf, mir war plötzlich sehr übel und schwindlig. Aber natürlich erwartete ich von diesem alltäglichen Sturz keine ernsthaften Konsequenzen und ging weiter zur Arbeit. 

Im Lauf des Vormittags fiel mir auf, dass es länger dauerte, bis sich meine Augen von Weit- auf Nahsicht umstellten. Ich spürte meine Fingerspitzen nicht. Ich war weiter wie benebelt. Irgendwann verabschiedete ich mich vorzeitig. "Ich muss mich ein bisschen hinlegen. Bis morgen!" 

Das war der Auftakt zu einer sehr herausfordernden Zeit.

In den nächsten Tagen wurde der Schwindel schlimmer. Es wurde so gut wie unmöglich, mein Zimmer zu verlassen, eine Straße zu überqueren, Einkaufen zu gehen. Farben, Licht, Bewegungen überforderten meinen Kopf komplett und lösten etwas aus, was sich kaum beschreiben lässt. So etwas wie Gänsehaut im Gehirn, Watte in den Nervenbahnen, Stromschläge. Ich hatte noch nie etwas ähnliches gefühlt und es war existenziell bedrohlich. Wenn der Kopf verletzt ist, ist das so nah am eigenen Ich, das lässt sich nicht vergessen, ruhig stellen oder umgehen wie ein gebrochenes Bein. Es ist immer da, es verändert wie man in die Welt hineinsieht, wie die Welt ankommt und wie man darauf reagiert. Ich fühlte mich völlig hilflos, überfordert und hatte Angst vor dem, was in meinem Kopf passiert.

Mein Allgemeinarzt nahm mich nicht ernst. Voltaren und den Hals zu dehnen, außerdem viel Schlaf, dann werde es schon wieder. Ich hoffte, dass er recht hatte. Nachdem ein paar krankgeschriebene Tage vorbei waren, ging ich wieder einen Tag zur Arbeit. Es war ja schließlich nichts (zu sehen, zu fühlen, passiert). 
Am Abend schaffte ich es kaum nach Hause. Ich zitterte, mir war schlecht, mein Kopf rastete völlig aus. Zu viel Licht, zu viele Leute, zu viel Bildschirm und Denken. Das Wochenende verbrachte ich wieder isoliert zu Hause, ich musste alles absagen. Das Plätzchenbacken mit Freunden (immerhin war Advent), den Sport. Es war nicht möglich zu lesen, einen Film zu schauen, zu stricken. Ich lag auf meinem Sofa und hörte stundenlang Podcasts. Ich war verzweifelt und fühlte mich betrogen. Von meinem Körper, der mich zuverlässig stundenlang durch den Wald rennen, tanzen, schwere Gewichte stemmen ließ. Und plötzlich nichts mehr konnte. Ich hatte Angst vor dem Unbekannten in meinem Kopf. Geht gerade irgendetwas irreparabel kaputt, blutet? Es wurde schließlich nie untersucht.

Am nächsten Montag hatte ich ein standardmäßiges Gespräch mit meiner direkten Managerin. Sie brach es nach wenigen Minuten ab und schickte mich zur Rettungsstelle, weil ich blass, apathisch und völlig verwirrt vor ihr saß. 
Eigentlich wollte ich dort nicht hin und hatte Angst direkt wieder weggeschickt zu werden. Seit dem Sturz waren 10 Tage vergangen und ich schon zwei Mal beim Allgemeinarzt gewesen. 
Doch es war gut. Man nahm mich dort ernst, führte ein paar Untersuchungen durch. Und sagte mir, dass ich eine Gehirnerschütterung hätte, die Symptome völlig normal seien. In ihrer Stärke zwar nach zehn Tagen ungewöhnlich, aber noch im Rahmen. Spätestens im Verlauf eines Monats würden die meisten wieder völlig gesund.
Ich war unglaublich erleichtert. Außerdem war bald Weihnachten. Bis dahin brauchte ich nicht mehr zur Arbeit zu gehen und sollte mich ausruhen. Bald würde wieder alles beim Alten sein.

So schien es eigentlich auch. Ich fühlte mich wieder gesund, als ich nach Hause flog. Ich bummelte einen Tag durch Berlin und unternahm alle Erledigungen, die ich mir im Laufe der Monate immer auf meine to-do-Liste setze. Ich ging laufen. Ich war froh.
Und dann kam pünktlich zu Heiligabend der erste von vielen, vielen Rückfällen. Ich hatte so starke Kopfschmerzen, dass ich aus der Haut fahren wollte. Ich kaute scharfe Pfefferminzkaugummi, spazierte durch die klare, kalte Nachtluft, versuchte irgendwie Linderung zu bekommen. In den nächsten Tagen legte sich der Schwindel wie ein Schleier über alles und fuhr nur ab und zu für ein paar unverhoffte Minuten nach oben. Ich war so enttäuscht, wütend und kein angenehmer Zeitgenosse. Ich konnte wieder nicht lesen, nur minutenweise auf Bildschirme schauen und ein Spaziergang im Wald war nur mit Tunnelblick zu schaffen. Beim Autofahren wurde mir von der Bewegung schlecht. Ich saß am Flughafen und wartete auf meinen Rückflug. Das grelle Licht, die vielen Menschen, das Gehetzte und Chaotische, dröhnende Kopfschmerzen waren kaum auszuhalten.

Mir wurde klar, dass das ein langer Prozess werden würde.

Das postkommotionelle Syndrom


Woche 4 - 9


Normalerweise verheilt eine Gehirnerschütterung ohne Folgen innerhalb weniger Tage bis Wochen. Aber bei ungefähr 10% der Fälle entwickelt sich ein postkommotionelles Syndrom. Das ist bisher kaum erforscht, unsichtbar, nicht therapierbar. Im Großen und Ganzen gehen die Symptome der Gehirnerschütterung einfach weiter, wahrscheinlich weil entweder chemisch etwas durcheinander geraten ist oder sich einzelne Nervenstränge von dem Unfall nicht erholen. Das kann zu einem breiten Spektrum von Störungen und Beeinträchtigungen führen, Kopfschmerzen, Schwindel, Schlafstörungen, permanente Müdigkeit, Migräne, Persönlichkeitsveränderungen, Angstzustände, Depressionen, Gedächtnisprobleme, spätere Demenz. Die Symptome können Monate andauern. Oder Jahre. Oder für immer. 

Nachdem ich mir das vierte oder fünfte Mal wieder für eine Woche eine Krankschreibung abholte, gab man mir beiläufig diese Diagnose mit. Ich musste akzeptieren, dass ich weiter alles absagen musste, nicht so bald wieder durch den Wald rennen würde und meinem Körper weiterhin nicht trauen konnte.

PCS ist auf so vielen Ebenen beschissen. Weil es unsichtbar ist, und man oft das Gefühl hat, nicht ernst genommen zu werden. Weil es keinen linearen, verlässlichen Fortschritt gibt, sondern gute und schlechte Tage/Wochen, und immer, ständig, andauernd Rückfälle. Weil man alleine kämpfen muss. Weil es so lang dauert. Weil man sich selbst ständig unter die Lupe nimmt. Diese Zuckungen abends beim einschlafen, hatte ich das schon vorher? Dass ich in Adobe Illustrator eine bestimmte Funktion nicht auf Anhieb finde – liegt es daran dass ich wochenlang nicht damit gearbeitet habe oder leidet mein Gedächtnis? 
Mein Alltag blieb ein Schatten von dem, was vor dem 5. Dezember fest zu jeder Woche dazugehörte. Tanzen gehen. Sport. Jeden Tag 8 Stunden zu arbeiten. Abends zu lesen bis ich normal müde werde. Ski fahren zu lernen. Mich gut und gesund zu fühlen.

Ich mag meine kleine Wohnung und komme gut mit mir selbst aus. Aber irgendwann wurde es unerträglich in dieser Kapsel. Ich war glücklich, als ich wieder zu 30% anfing zu arbeiten. Leute treffen, etwas Sinnvolles tun, Input bekommen, sich nicht nur um sich selbst drehen. Die Quittung kam meistens direkt, spätestens am Abend. Starke Kopfschmerzen, Gehirnmatsche. Ich ging zwischen sieben und acht Uhr abends ins Bett und schlief elf Stunden durch. Ich spürte noch immer physisch die Reaktion in meinem Kopf wenn mehrere Menschen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten an mir vorbeigingen, vielleicht noch mit einem fahrenden Auto im Hintergrund, und es zu viel Information wurde. Aber ich wurde sicherer, brauchte nicht mehr ständig auf den Boden zu starren. Manchmal, wenn ich mit Freunden zusammen war, kapselte ich mich für eine viel zu lange Dauer ab: weil mir plötzlich ein englisches Wort fehlte und ich nicht eher ruhen konnte, bis ich darauf gekommen war. Um mir selbst zu beweisen, dass der Kopf doch wieder funktioniert.
Manchmal hatte ich so starke Kopfschmerzen, dass mir übel war, und Tabletten halfen nicht. Manchmal saß ich abends weinend zu Hause und hatte doch das Gefühl, dass es überhaupt keinen Fortschritt gibt und ich fragte mich, wie lange das meine Arbeit und mein soziales Umfeld noch mitmachen würden. Ich fühlte mich alleine und fand es schwer, noch mehr Hoffnung und Optimismus aufzubringen. In genau diesen Momenten erlebte ich aber auch oft, dass Gott mir nicht mehr zumutet, als ich schaffen kann. Dass er mir von einer Sekunde auf die nächste Ruhe und neue Entschlossenheit geschenkt hat. Dass er mich vor Depression, die viele mit PCS erwischt, bewahrt hat. Die starke Vorfreude auf das "Danach", das Leben wenn alles wieder in Ordnung ist, all die Pläne die ich für den Frühling schmiedete halfen mir immer und waren ein großes Geschenk.

Nach acht Wochen erlebte ich an einem Abend wieder einen extremen Tiefpunkt. Ich hatte, nach Anweisung der Ärzte, die mir alle zwei Wochen relativ unbekümmert eine neue Krankschreibung ausstellten, geruht. Ich hatte es immer mal wieder probiert, laufen zu gehen. Ich hatte viele Rückfälle erlebt, und dann direkt wieder runtergeschaltet. Immer der Gedanke, dass es meine eigene Schuld ist, weil ich nicht ruhig genug gewesen bin und es deshalb nicht besser wird. Es mag paradiesisch klingen, Ruhe halten zu müssen, aber nach vier bis fünf Wochen ist es richtig schlimm. Weil man doch gerne wieder dazugehören, funktionieren und kein Gedanken an sein Gehirn verschwenden möchte.
Ich erlebte kaum, dass es vorwärts ging, und vertraute mit keiner einzigen Zelle meines verletzten Kopfes darauf, dass mir Ärzte oder irgendjemand dafür sorgen würden, dass ich gesund würde.

Und dann bekam ich wieder von Gott neue Kraft. Und den absoluten Willen, dafür zu sorgen dass ich nicht zu einem der vielen Fälle werde, die seit Jahren durch PCS in Depression sind, die ihr komplettes Leben für immer abbremsen, abschirmen und neu ausrichten mussten.

Der lange Weg zurück


Woche 10 – ?


Ich suchte nach Leuten, die von einer Heilung von PCS berichteten. Es gibt sie im Vergleich zu den traurigen Fällen unverhältnismäßig seltener. Aber es gibt ein paar Blogposts. Und in diesen stieß ich auf eine Therapieform von auf Gehirnerschütterungen spezialisierten Kliniken, die Expose and Recover heißt. Und für mich sehr viel Sinn macht. 

Anstatt passiv abzuwarten, geht man wie beim Sport davon aus, dass das Gehirn wieder darauf trainiert werden muss, Umstände auszuhalten. Aus dem Mechanismus, Licht, Lärm, Bewegung und viele Menschen zu vermeiden, auszubrechen. Sondern bewusst all das wieder zu konfrontieren. In Kauf zu nehmen, dass das unangenehm ist. Wie Muskelkater Kopfschmerzen, Schwindel, Gehirnmatsche zu billigen. Das Gehirn sich anpassen zu lassen. Und daraufhin mit der nächsten Herausforderung zu kommen.

In diese Aufgabe stürzte ich mich enthusiastisch. Ich wollte endlich selbst wieder etwas unter Kontrolle haben. Und somit fing ich an, mir vieles wiederzuerkämpfen, worüber ich vorher nie nachgedacht hatte. Immer mit der Angst, doch das Falsche zu machen und mich endgültig zum kognitiven Wrack herunterzuwirtschaften. Mit Zweifeln. Mit Schmerzen und Anstrengungen. Aber ich habe es gemacht. Und so sah diese Zeit aus:






Ich traute mich aufs Eis (das war ein großes Ding!). Ich ging laufen (erst genau 3 Minuten im Fitnessstudio, dann eine kurze Runde durch die Stadt, dann endlich wieder in den Wald). Ich ging mit meinen Kollegen zum Afterski (dafür braucht man wirklich eine dicke Birne!). Ich fuhr Schneemobil.

Sehr oft hatte ich extrem starke Kopfschmerzen und wollte eigentlich absagen. Dann fürchtete ich mich aber von dem Gefühl dieser "Niederlage", diesem Zugeständnis, doch noch krank zu sein, mehr als vor den physischen Schmerzen. Und zog es durch. Und es ging gut.

Diese Wochen waren gepflastert von kostbaren, wiedererrungenen Momenten und Meilensteinen. Ich hätte weinen können, als ich zum ersten Mal wieder zu einem Bus rannte. Zu Hause eine einstündige Dokumentation am Stück schauen konnte, anstatt alle zwanzig Minuten eine Pause einlegen zu müssen. Einen mehrstündigen Workshop auf der Arbeit abzuhalten, bei dem mir niemand anmerkte, dass mein Kopf gerade explodierte. Es war unbeschreiblich herrlich, wieder das echte Leben zu kosten.

Es gab auch weiterhin Rückfälle. Nachdem ich zwei Wochen lang fast gar nichts merkte, war mir doch eine Woche lang wieder sehr schwindlig, und ich spürte abends eine absolut lähmende Erschöpfung die mich in Frage stellen ließ, ob ich überhaupt jemals wieder von meinem Stuhl aufstehen, geschweige denn den Rest des Lebens angehen könnte. Es gab Momente wie den, dass als ich um zwei Uhr meine Sachen zusammenpackte, meine Kollegin bemerkte: "Du hast es gut!" Mein linkes Auge fühlte sich an, als würde es gleich herausspringen, denn dort verbiss sich der Kopfschmerz gerne. Mir war den ganzen Tag schwindlig gewesen. Ich sagte nichts davon zu ihr.

Und doch, beinahe unmerklich, aber stetig, nahmen all die Symptome ab. Irgendwann hörte ich auf, die Wochen seit dem Sturz zu zählen, was mir verdeutlichte, dass in meinem Bewusstsein endlich wieder Platz für andere Sachen als diese Krankheit ist.

An diesem Punkt stehe ich nun. Ich freue mich noch nur zögerlich, weil mir all die Rückschläge noch schwer in den Knochen stecken und ich unzählige Male dachte, am Ziel zu sein. Aber dann erinnere ich mich an all die Sachen, die ich in den letzten Wochen machen und erleben durfte, und weiß, dass das alles ein paar Wochen vorher absolut, komplett, ohne Frage völlig undenkbar gewesen wäre. Vielleicht wird es weitere Rückschläge geben. Ich habe immer noch beinahe jeden Tag Kopfschmerzen. Aber ich kann endlich sicher sagen, dass es insgesamt bergauf geht. Dass ich wieder Ich bin.

Ich sehe zurück auf Monate voller gruseliger Erfahrungen und Gefühle, mit tiefster Verzweiflung und der erschreckenden Erkenntnis, wie sehr man kaputt gehen kann. Ich gehe aus dieser Zeit heraus mit nicht zuletzt der Erkenntnis, wie sehr man wieder heilen kann. Der Erinnerung, wie gut es ist, in so einer Situation einen starken Gott an seiner Seite zu haben, den man anbrüllen kann und vertrauen, dass er es doch in der Hand hat. Der Selbstreflexion, dass ich im Innersten vielleicht doch nicht wie immer angenommen ein Pessimist oder Realist bin, sondern ein Optimist und in der Lage, Hoffnung zu bewahren. Dem festen Vorsatz, zukünftig Verständnis und Empathie Menschen mit unsichtbaren Krankheiten entgegenzubringen, aus der Erfahrung heraus wie sehr man tatsächlich ohne äußerlich sichtbaren Schaden leiden kann. Und auch dem Vorsatz, mich häufiger daran zu erinnern, was für ein Wunder Gesundheit ist und was für eine großartige Leistung mein Gehirn in jeder Sekunde bringt wenn ich es nicht bemerke.
Es ist nicht so, dass ich mittlerweile die letzten vier Monate nicht missen wollen würde und im Rückblick einen Sinn in ihnen sehe. Aber ich will Gott auch nicht mehr anklagen. In irgendeiner Weise wird es eine Lehrstunde gewesen sein. In der gesamten Zeit habe ich auf den Moment gehofft, in dem ich diesen Blogpost schreiben und auch veröffentlichen kann, in der Rückschau, nachdem alles vorbei und überstanden ist. Ich bin aus tiefstem Herzen unendlich dankbar, dass das keine selbstbetrügerische Illusion war, sondern Wirklichkeit geworden ist. PCS wird nicht mein Leben bestimmen. Vielleicht, weil ich vom passiven Abwarten die Kehrtwendung gemacht habe und stattdessen auf expose and recover gesetzt habe. Ganz sicher aber vor allem, weil der, der die Macht über alles hat und trotzdem keinen einzigen kleinen Menschen aus dem Blick verliert, einen anderen Plan hatte. 

Sonntag, 1. September 2019

Als ich einmal tough war

Mein erster Ausflug hier in Oslo führte mich und die beiden geliebten Brüder auf den Holmenkollen – einem Berg dessen Skischanze Norwegens meistbesuchteste Touristenattraktion und eine der bekanntesten Sportstätten der Welt ist. Wir waren begeistert von der Aussicht die sich auf den Oslofjord bot und stapften einige Kilometer durch tiefen Schnee.

Gestern stand ich wieder dort, schwitzend statt frierend, zusammen mit vielen verrückten Leuten und vielen Ängsten. Eine Zusammenfassung von meinem jüngsten Abenteuer hier im Norden.

Schon viele Male habe ich auf Instagram, Facebook & Co. Bilder von völlig fertigen, dreckigen, wahnsinnig und glücklich aussehenden Menschen gesehen die quasi mit letzter Kraft ihre "Toughest"-Medaille hochhalten. Der "Toughest" ist ein berühmt berüchtigter Hindernislauf der in mehreren Ländern ausgerichtet wird. Als sich die Möglichkeit über Making Waves bot, dort teilzunehmen, habe ich die Chance begeistert ergriffen, ohne, wie so oft, ausgiebiger darüber nachzudenken. Außerdem war das Datum zum Zeitpunkt der Anmeldung viele Monate weit weg, und seinem zukünftigen Ich mutet man ja gerne mal allen möglichen Schwachsinn zu.

Ich bin allerdings nicht gut im Verdrängen, weshalb ich früher meine Hausaufgaben gerne direkt im Flur schon erledigt habe damit sie "weg" sind. Auch diesen Lauf konnte ich nicht gänzlich verdrängen und geisterte all die Monate ungemütlich in meinem Hinterkopf.

Deswegen war ich gestern Morgen sehr froh, diese Sache endlich angehen zu können. Hätte ich gewusst, was genau kommt, wäre ich wahrscheinlich nicht aufgestanden. Aber so habe ich mein Bett frisch bezogen, um mich für den Abend auf etwas freuen zu können, schlüpfte in mein Making Waves T-Shirt und nahm ein kräftiges, aber möglichst wenig Probleme bereitendes Frühstück zu mir.

In der Bahn freute ich mich wie Bolle. Bei jedem Berlin-Marathon beäugte ich neidisch all die Sportlichen, die sich auf ihrem Weg zum Start in den Bahnen sammelten und voller Nervosität und Stolz die Ehrfurcht ihrer "normalen" Mitreisenden genossen.
Jetzt gehörte ich selbst zu dieser Gruppe verrückter Menschen, die sich von anderen Wanderern, Pilzesammlern und Touristen deutlich abhob. Ich war auf dem Weg, mich laut "Toughest"-Website, "physisch, psychisch und mental mit über 40 Hindernissen" herauszufordern und etwas zu tun, was ich noch nie zuvor getan hatte.
Den späteren Teil dieses Textes auf der Website, "dich erwarten Hindernisse wie Monkeybars und Seile mit verschiedenen Kombinationshindernissen, sowie Wasser und große Höhen" habe ich nicht gelesen. Hätte ich mal!


Die Nervosität steigerte sich natürlich, als wir uns als Gruppe zusammenfanden, aufwärmten und schließlich kurz nach eins endlich loslaufen durften. Und dann stellte ich beim ersten Hindernis bestürzt fest, was die eigentliche Herausforderung werden würde. Höhe. Ich hatte einen sehr schmalen Balken mithilfe meiner Kollegen erklommen, und nun sollte ich ihn auf der anderen Seite herunterspringen. Mein Puls raste, meine Hände waren nass, ich zitterte und schwankte dort oben, sicher dass ich nach unten kommen würde, unsicher ob fallend oder kontrolliert.
Und dann kam meine Freundin mir zur Hilfe, machte ihre Hände zum Trittbrett und ermöglichte einen langsamen Abstieg. Wir rannten weiter – zu einem 4 Meter hohen Turm von dem aus ins Wasser gesprungen werden sollte. So ging es immer weiter.

Knapp zweieinhalb Stunden lang jagte bei düsterem, wolkenverhangenem Himmel ein Schrecken den nächsten. Ich kam aus dem Zittern nicht mehr heraus und wünschte mir inständigst, heil am anderen Ende dieser selbstauferlegten Prüfung herauszukommen. Schlussfolgerung: ich hatte das Ganze gründlich unterschätzt! Von Höhe war nie die Rede gewesen.

Nebenbei hat es aber tatsächlich auch Spaß gemacht. Wir waren ein Team, und ohne die Hilfe unserer männlichen Kollegen hätten viele von uns zarten Mädels die Ziellinie nicht erreicht. Aber sie waren da, und ich hätte jedes Mal vor Dankbarkeit in Tränen ausbrechen konnte wenn man mich am oberen Ende eines Hindernisses auffing und hochzog, auf den Schultern das Hangeln von Ring zu Ring ermöglichte oder man sich auch gegenseitig einfach nur mit einem netten Wort ermunterte und motivierte.

Ich überwindete meine Angst unzählige Male. Ich vertraute meinem Team. Ich lernte, dass es möglich ist sich einfach in den Dreck zu schmeißen und unter Netzen entlang zu robben, in voller Montur durch einen eiskalten See zu schwimmen oder faultiermäßig von unten einen hängenden Balken entlangzuhangeln. Dass ich (ein bisschen) Kraft habe, Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, Unangenehmes auszuhalten.
Es war gut zu sehen, dass es diese Seite noch gibt, neben dem routinierten, glattpolierten vernünftigen Erwachsenen der sich verlässlich jeden Wochentag ins Büro begibt.

Trotzdem bleibt eine drängende Frage: Warum?! Freiwillig? Sowas?
Weil sich die Möglichkeit bot. Um öfter Ja zu sagen. Eine neue Erfahrung zu machen. Für das Gefühl danach. Um es von der Lebens-To-do-Liste zu streichen. Zu sehen, wie fit man wirklich ist. Davon zu erzählen.
Ich weiß es nicht genau. Es muss der selbe Grund sein, aus dem man sich mehrfach in die Berge begibt um dort unter Strapazen und in einfachsten Verhältnissen ein paar Tage umher zu spazieren. Es ist einfach gut, ab und zu etwas zu tun, was weit entfernt vom Alltag ist.

Das Rennen zog sich sehr. Als ein Schild proklamierte, dass 2 Kilometer von den 8 geschafft sind, erschrak ich. Es hatte sich so angefühlt, als hätte man schon sehr viel geschafft, und dabei war es erst ein Viertel. Gegen Ende hatte ich wirklich keine Lust mehr, auf dem Boden herumzukriechen, und keine Kraft mehr mich wieder einer Höhenangst-Situation zu stellen. Ich wurde müde, die Füße scheuerten in den vom See nassen Schuhen, die Gelenke taten weh vom reißen, stemmen, tragen, hängen, springen.

Und dann kam doch noch ein Highlight, zumindest für alle anderen. Meine Freundin musste sich vor Lachen für einen Moment setzen, als ich ihr völlig fassungslos mitteilte, dass meine Hose komplett zerfetzt war. An einem der letzten Hindernisse, bei dem man mehrere Absätze aus mit Draht umspannten Geröll herunterspringen musste, war ich gleich zweimal hängen geblieben. Ein leichtes Ziehen, ein kaum hörbares Geräusch und plötzlich war der Hintern ein bisschen kälter. Wat nu?
Es war Kilometer 7, die Zuschauer drängten sich am letzten Absatz und der genau beobachtete Sprint hoch auf "Norwegens meistbesuchteste Touristenattraktion", also 150 Meter Skischanze mit 35 Grad Steigung trennten mich von meinem Rucksack und meinen trockenen, heilen Klamotten. Eine Szene, so absurd und unvorhergesehen dass sie mir in noch keinem Alptraum begegnet ist, aber gut und gerne dort vorkommen könnte. Andererseits war ich kaputt, das Ziel in Sicht und mir eigentlich schon seit einer halben Stunde ziemlich viel egal. Ich zog mein T-Shirt weit nach unten und machte mich an die nächste Aufgabe, zwei 20kg schwere Kanister von A nach B zu schleppen. Ich musste feststellen, dass diese Lösung keine gute war, und so blieb mir letztendlich nur übrig mein T-Shirt als Deckmantel hinten in die Hose zu stecken und so zu tun, als hätte ich vor lauter sportlicher Euphorie und Hitze die Entscheidung getroffen, die letzten Meter in einem knappen Sport-Top zu meistern. Augen zu und durch, oder zumindest keinen Blickkontakt mehr. Unter diesen Voraussetzungen sprintete ich die Schanze hoch ohne die Steigung weiter zu registrieren, überholte alle die keuchend vor mir krabbelten und nahm kaum wahr, wie man mir meine Medaille um den Hals hängte. Es war vorbei, plötzlich und unerwartet. Erleichterung, Freude und Stolz kamen dann doch, als ich mich zum ersten Mal seit gefühlten Jahren hinsetzte und feststelle, dass ich mich nun nicht mehr ungesichert auf irgendwelche hohen Konstruktionen begeben musste.



Die obligatorischen Siegerfotos wurden geschossen, und dann konnte ich endlich in meine trockene und heile Hose. Es blieb nur noch übrig, uns in einem Restaurant gegenseitig zu feiern und die erlebten Stories zu teilen.


Heute, am Tag danach, tut mir natürlich alles weh. Meine Knie und Unterarme sind blau und aufgeschürft, Muskelkater ist überall. Ein schönes Gefühl.

Ich bin froh, dass dieses Rennen geschafft ist und raus aus meinem Hinterkopf. Ich bin froh, es gemacht zu haben, und so viel Teamgeist und Miteinander zu erleben. Und ich bin sehr dankbar, mich nicht verletzt zu haben, Möglichkeiten dafür und Unfälle gab es auf der Strecke viele.

Die Episode ist also zufrieden abgeschlossen und abgehakt. Ob ich das nochmal mache? Ich weiß ja nicht ...

Samstag, 29. Juni 2019

Skandinavischer Sommer

Bis jetzt ist es mir noch nicht eingefallen, diesen Zustand als Sommer zu bezeichnen. Dafür hat es zu viel geregnet und war zu kalt. Ich war ziemlich neidisch auf die, die in Deutschland seit Wochen am stöhnen sind. Dass die Luft zum schneiden ist, jede Bewegung anstrengt und die kalte(n) Dusche(n) am Tag die einzigen auszuhaltenden Minuten sind, gehört zum Jahr für mich einfach dazu. Bis jetzt habe ich noch darauf gewartet.

Gestern aber bin ich im Oslofjord (also im Meer!) geschwommen und saß hinterher noch lange in Badeklamotten mit meinen Kollegen zusammen, picknickend und dummes Zeug erzählend. Das war doch schon sehr Sommer! Und herrlich. Einfach nach Feierabend auf eins der Boote zu springen, die genauso zum öffentlichen Nahverkehr dazu gehören wie Bus und Straßenbahn, 10 Minuten zu fahren und dann auf einer wunderschönen, grünen Insel wieder an Land zu gehen, ein ruhiges Plätzchen zu finden und dort bis mindestens Sonnenuntergang zu verweilen – das hatte ich von Norwegen nicht unbedingt erwartet. Und deswegen spreche ich jetzt doch von Sommer.




Die Jahreszeit äußert sich außerdem in einer sehr entspannten Grundstimmung, bzw. haufenweise leeren Schreibtischen im Büro. Die meisten hauen ab, für mindestens drei Wochen, auf die hytta oder in fernen Länder. Wer aus irgendeinem dummen Grund doch zur Arbeit geht, muss sich zu beschäftigen wissen, ohne Kollegen. (Ich habe allerdings Pech und trotzdem viel zu tun.)

Es ist hell. Hell, hell, hell. Fast jeden Morgen wache ich irgendwann zwischen drei und vier Uhr auf in dem Glauben, verschlafen zu haben. Und drehe mich dann vergnügt nochmal für drei weitere Stunden um. Trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, bin ich jeden Tag extrem müde. Vielleicht liegt es auch an der Arbeit oder zu vielem Nachdenken. Jedenfalls schleppe ich mich durch die meisten Wochentage gerade so durch.

Wie man es aus Berlin auch kennt, kommen die Leute sobald die Sonne herauskommt aus ihren Löchern gekrochen und versammeln sich in Parks und auf jedem Stücken Grün das sie finden. Man staunt, wie viele Einwohner die Stadt plötzlich hat! Jetzt wird sie sich allerdings wieder leeren, da ja die meisten verreisen.


Ich gehe jedes Wochenende mindestens einmal wandern und mir quillt jedes Mal das Herz über. Ich liebe es, durch Wälder, über Flüsse, Wiesen und kleine Berge zu gehen, Vögel zu hören, Luft auf der Haut zu spüren die nicht schneidet, Gräser und Blumen zu riechen und bei alldem kaum mal jemanden zu treffen. Dass man ab und zu doch jemanden sieht, ist allerdings nicht zu vermeiden, denn die Norweger sind mindestens genauso naturverliebt und bewegungssüchtig wie ich. Mittlerweile wundere ich mich überhaupt nicht mehr, wenn ich eine halbe Stunde über Baumstämme und Felswände hoch klettere, an schmalen Graten entlangbalanciere und über tausend Wurzeln springe, um am obersten Punkt der Route zwei Norweger mit ihren Fahrrädern bei einer vergnügten Futterpause zu treffen. Oder mich einen strammen Marsch von der Zivilisation zu entfernen, beinahe schon abenteuerlich auf selten beschrittenen Wegen zu fühlen und dann doch einem uralten zarten Mütterchen in Wollcardigan mit Hund zu begegnen. Die Leute hier sind in jedem Alter fit, und jeder stiefelt in seinem Tempo oder mit seinem Fortbewegungsmittel der Wahl kilometerweit durch die "Marka", Oslos grüne Umgebung. Mir graut jetzt schon vor den Monaten, in denen all diese Herrlichkeit wieder unter Schnee begraben ist (im Norden Norwegen gab es heute tatsächlich 12cm Neuschnee, zur Verblüffung aller Beteiligten).

Hier war ich auch schwimmen 
Hier nicht.




Es war Midsommar, letzte Woche, und das geht natürlich nicht ohne Blumenkranz, erst recht wenn man schwedische Kollegen hat. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben unter Zeitdruck einen dieser Kränze zusammengestopft und rabiat in Form gebracht, für den Mangel an Kompetenz ist er doch erstaunlich erkennbar geworden. Und dann habe ich mit meinen Kollegen die kürzeste Nacht des Jahres gefeiert. Jetzt versuche ich ihn zu trocken (also hänge ihn einfach an den Fenstergriff und denke nicht mehr dran).



So viel zum hiesigen Sommer. Ich muss euch auch vom 17. Mai, dem Nationalfeiertag berichten, das werde ich noch machen! Sobald sich das nächste Mal wieder ein bisschen Energie angesammelt hat.


Montag, 6. Mai 2019

Von Ostern, Ordnung und Orientierung

Es ist fast neun Uhr abends, ich sitze in meinem schönen Zimmerchen und denke überhaupt nicht daran, eine Lampe anzumachen. Es ist hell, nicht nur wegen der vielen Fenster. Die Sonne geht spät unter, und selbst wenn sie weg ist ist es nachts immer noch schummrig bis sie bald schon wieder da ist. Ich bin ja noch in gemäßigten Gefilden, bei weitem noch nicht im hohen Norden, und die Tage sind auch noch nicht am längsten, trotzdem finde das viele Licht bemerkenswert. Und bin müde.

War nicht gestern noch Ostern?
Es war jedenfalls herrlich, der Ausflug in die Heimat und in die Kindheit. Genau so viel Sonne und Wärme wie ich es mir sehnlichst gewünscht hatte. Draußen sein, sich um wenig kümmern, Wald der aus den Socken rieselt, Sonnenbrand und blaue Flecken, Käsekuchen, stricken am zitronengelben Gute-Laune-Pullover, abends kaputt und frisch geduscht auf dem Sofa landen, Familie.



Ich habe das Intermezzo maximal ausgekostet, erst an meinem ersten Arbeitstag nach diesen Ferien bin ich morgens wieder zurück nach Oslo geflogen. 4 Uhr 30 aufstehen, 7 Uhr 30 abheben, 10 Uhr 30 am Schreibtisch landen, rechtzeitig zur Mittagspause. Das hätte man mal vor wenigen Generationen jemandem erzählen sollen, dass sowas heute möglich ist. Der Kopf braucht trotzdem etwas länger um hinter diesem rasanten Szenenwechsel hinterher zu kommen.

Nach diesem Arbeitstag bin ich dann zum ersten Mal nach Hause gekommen – in eine eingerichtete Wohnung, in der es nicht mehr wie Kraut und Rüben aussieht. Das wurde in einem dreitägigen Kraftakt vor dem Osterurlaub geschafft, mit übermenschlichem Einsatz. Ich verstehe immer noch nicht, wie und warum meine Eltern das gemacht haben. Zwei Tage Reise, zwei Tage schleppen, bauen, Ikea, Chaos, zweifelhaft von mir bekocht werden, nur einen knappen Tag durchpusten und wenigstens einen kurzen Blick auf Norwegen werfen. Danke.

Mit der Fähre zu Sonnenuntergang Oslo verlassen – kann man mal machen.
Mein toller Retro-Schreibtisch und der noch nicht neu bepolsterte Retro-Stuhl

Die Kindercouch, die es nach Norwegen geschafft hat. Und immer noch gut aussieht.

Letzte Woche habe ich meine Bank ID bekommen. Wunder geschehen! Jetzt geht das Leben los.

So ganz langsam verschwindet der Schnee aus den Bergen, endlich (wobei es diese Woche hier, mitten in der Stadt, neu geschneit hat). Ich habe mich prompt schon in die eine oder andere Wanderung gestürzt, die oft aus mangelndem Orientierungssinn sehr ausarten. Nach zwanzig Kilometern finde ich selbst norwegische Berge nicht mehr schön.
Aber bis jetzt habe ich noch immer wieder zurückgefunden.




Nicht aller Schnee ist weg.
"Velkommen til Bydel Grünerløkka." Mit ein paar Wochen Verzögerung bekomme ich nach meinem Umzug eine Willkommens e-Mail meines neuen Stadtviertels. Darin stehen viele nützliche Sachen – wo ich meinen Müll entsorgen kann und sollte, was es mit Parkausweisen auf sich hat usw. Ein überraschender Service.

Ein anderer positiver überraschender Service ist eine Alternative zur hiesigen Post, die ich kürzlich ausprobiert habe. Man gibt online die Empfängeradresse an, erhält einen Code und schreibt diesen auf das Päckchen, das man dann einfach vor die eigene Wohnungstür auf die Fußmatte legt. Die Zeitungsleute sammeln das dann ein, man selbst und der Empfänger bekommt Status-Updates per SMS und es kommt tatsächlich sehr schnell und im Vergleich günstig am Bestimmungsort an.
Manchmal fühlt sich Norwegen doch etwas fortschrittlich an.

Freitag, 5. April 2019

Neuer Standort

Meine abendliche Routine besteht aus Aufpusten.
Ich google Geschirrspülprogramme um zu sehen, welches am ökologischsten ist und welches schnell geht.
Ich kann völlig legitim meine Kleidung auf den Boden schmeißen. 
Ich stelle fest, dass neu gekaufte Geschirr- und Handtücher nicht trocknen, und sich ihr Zweck damit auf ein Minimum reduziert.
Wenn ich frische Luft brauche, habe ich die Wahl zwischen 14 zu öffnenden Fenstern.
Ich werde zum Profi für Montageanleitungen.
Morgens liege ich mit steifem Rücken und lausche einem verrückten Konzert von Vogelgezwitscher, ansonsten ist es einfach still. 

Ich bin umgezogen. Das ist aufregend, anstrengend, furchteinflößend und herrlich. Wie so oft lief das meiste nicht wie geplant. Mein Hab und Gut bekomme ich erst in zwei Wochen, solange ist campen und improvisieren angesagt. Das ist auf jeden Fall eine Erfahrung. Zunächst einmal: es geht, ohne alles. Ohne Kleiderschrank, Bett, Stuhl, Tisch. Aber herausfordernd. Jetzt, zum Ende von Woche 1, meldet sich mein Rücken morgens schon sehr deutlich. Ich schlafe auf einer Camping-Matratze, exakt 52 cm breit. Die und Bettzeug konnte ich mir von meinen Kollegen ausleihen. Und das ist schön! Ich mag es, wenn man Sachen teilt, um zu vermeiden Dinge zu kaufen die man innerhalb kürzester Zeit nicht mehr braucht und dann wegschmeißen würde. Wenn man sich gegenseitig vertraut und unterstützt, wenn es nötig ist. Dass mehrere Leute sich den Umstand gemacht haben und mehr oder weniger dicke Tüten mit auf die Arbeit geschleppt haben, damit ich nicht auf dem Boden schlafe. 

Abendessen, wenig stilvoll
Zusammengeliehenes Matratzenlager

Das Schöne ist, dass wenn man so reduziert lebt, jede Errungenschaft ein Fest ist. Am Anfang hatte ich wirklich nur die olle Luftmatratze, auf der ich nicht nur geschlafen, sondern auch gelesen, gestrickt und alles getan habe. Setze dich mal einen Abend an eine Wand, das ist überhaupt nicht angenehm! Dann habe ich mir einen wunderschönen gebrauchten Retro-Stuhl besorgt. Und jetzt genieße ich es ungemein, auf einem Stuhl sitzen zu können! Zumal dieses Sitzmöbel wirklich eine optische Wonne ist, und ich bekam ihn zu allem Überfluss auch noch geschenkt, nachdem die Verkäuferin mich vergessen hatte, ich eine halbe Stunde in der Kälte wartete und ihr das dann so Leid tat dass sie kein Geld mehr haben wollte. 

Ein Prachstück, oder? Und ich werde ihn neu bepolstern. Kann ja nicht so schwierig sein. 
Weitere Errungenschaften. Sachen selbst zusammenzubauen, zu montieren, zu verkabeln, in Betrieb zu nehmen, zum Beispiel eine Lampe, eine Klopapierrollenhalterung und Internet. Stolz ist gar kein Ausdruck für so viel ungeahnte Selbstständigkeit!


Die Fußbodenheizung, die ich im Bad habe. In Norwegen Standard, aber ich freue mich jeden Morgen aus dem kalten Zimmer auf warme Fliesen zu tappen.

Eine Spülmaschine. 

Die neue Gegend, mit einem Fluss und einer Truppe Singvögeln auf der einen Seite, viele besondere kleine Läden und Cafés auf der anderen Seite. 

Der Arbeitsweg, der es mir erlaubt, mich morgens eine halbe Stunde zu sammeln und es außerdem leicht macht, die von der Fitbit täglich geforderten 10.000 Schritte zu sammeln. 

 
Wenn man sich auf dem Weg zur Arbeit wie im Urlaub fühlt. (Im sehr spießigen Urlaub)
Und so viel mehr. Ja, es ist chaotisch und ungemütlich zu Hause, und manchmal fühle ich mich überhaupt nicht wohl. Vor allem wenn kurz nach zehn Uhr abends ein Alarm unter dem Spülbecken losgeht und ich partout nicht herausfinde, woher das kommt. Erst jede Sicherung einzeln herausnehme und schließlich den kompletten Strom abschalte, bis es aufhört. Und die Nacht über ultra-wachsam bin, auf jedes Geräusch höre in der Angst, einen Wassermelder o.Ä. abgeschaltet zu haben und gerade einen Riesenschaden zu verursachen. Den ich selbst bezahlen muss, weil ich ohne Bank ID noch keine Hausratversicherung abschließen konnte. 

Aber es gibt auch so viele schöne Momente und Entdeckungen. Wenn es erst eingerichtet, ordentlich und wohnlich ist ... dann werde ich mich sicher wohlfühlen. Ich bin dankbar! Grüße aus dem Hottentotten-Lager.

Mittwoch, 27. März 2019

Fehler im System


Ich hatte es ja schon ab und zu anklingen lassen, wie kompliziert es ist in dieses norwegische, elektronische System reinzukommen. Die Schlacht dauert an, und mittlerweile sind so viele absurde Situationen entstanden, dass ich gar nicht umhin kann, einen eigenen Blogpost dazu zu schreiben. Es ist wie in Kafkas düsteren Romanen, oder dem Asterix-Film wo Asterix und Obelix beim Amt den Passierschein A38 beantragen sollen. Völlig verrückt.

Für Norweger, und wenn man einmal drin ist, scheint es zu funktionieren. Alles Offizielle, Medizinische, Finanzielle kann online beantragt, unterschrieben und eingesehen werden. Wer allerdings (noch) nicht drin ist, für den gibt es keine Alternative.

Die erste Voraussetzung ist eine norwegische Personennummer, und ich berichtete davon, dass ich bei der zuständigen Behörde im Dezember einen Termin für Anfang April bekommen habe. 
Nur weil mein Arbeitgeber eine Agentur angeheuert und teuer Geld bezahlt hat, habe ich meine Nummer im Schnellverfahren bekommen. Damit konnte ich ein Bankkonto eröffnen und mein Gehalt bekommen (nach zwei Monaten). Außerdem bezahle ich jetzt beim einkaufen endlich nicht mehr teure Gebühren und absurde Wechselkurse.

Damit konnte ich auch ein Dokument beantragen, das ich brauchte um bei der deutschen Botschaft einen neuen Reisepass zu bekommen. Den Reisepass braucht man nämlich, um zu seinem Konto eine Bank ID zu bekommen. Diese bescheuerte Nummer treibt mich wirklich in den Wahnsinn, dazu später mehr.

Immerhin erschien ich mit der Personennummer auf dem offiziellen Radar, was bedeutet dass ich endlich einen Arzt zugewiesen bekam. Ab diesem Zeitpunkt durfte ich krank sein! Man darf nämlich nur zu dem Allgemeinarzt gehen, der einem zugeteilt wurde, und nur mit einer Überweisung von diesem Arzt zu anderen Spezialisten. 

Zum Beispiel dem Ohrenarzt. Ich habe ein kleines Handicap, und das sind sehr kleine Gehörgänge. Das ist eigentlich nicht weiter schlimm, wenn ich regelmäßig zu einer Ohrenreinigung gehen kann. Passiert das aber nicht, ist die Kacke am dampfen. Wirklich.

Ich merkte schon Anfang Februar, dass es knapp wird, und wachte nachts oft mit Ohrenschmerzen auf. Aber – keine Personennummer, kein Allgemeinarzt, kein Ohrenarzt. Also wartete ich ab.

Anfang März, mit Personennummer, bekam ich den Brief mit der Adresse einer, ab sofort meiner, Ärztin. Ich machte mich direkt auf, und tigerte eine ganze Weile durch den Gebäudekomplex, in dem diese Ärztin ihre Praxis haben sollte. Nachdem ich nichts Konkretes fand, setzte ich mich einfach in einen offensichtlichen Wartezimmerbereich. Und bekam mit, wie eine Frau neben mir eine vorbeieilende Schwester fragte, was denn mit Frau XY, meiner Ärztin sei, sie sei gar nicht mehr ausgeschildert. „Na die hat aufgehört!“. Aha? Wieso erfährt man das nicht? Und wo gehe ich jetzt hin?

Man hat das Recht darauf, bis zu zweimal pro Jahr seinen Arzt zu wechseln. Das passiert – natürlich online. Und dafür brauche ich eine Bank ID. Da mein Reisepass noch nicht fertig war hatte ich die nicht, und somit wiederum keine Möglichkeit zu einem Arzt zu gehen.

Seid ihr schon verwirrt? Das ist erst der Anfang.

Also machte ich mich über eine Alternative schlau, die Ohren wurden dringend. 
Ein Norweger hat hier zwei Unternehmen mit dem selben Konzept gegründet. Eine Friseurkette, in der am Fließband Haare geschnitten werden, ohne Termin, zum Festpreis und in einem festen Zeitrahmen von 15 Minuten pro Kunde. Schnell, unkompliziert, unpersönlich.

Diese Kette läuft gut, und deshalb hat dieser Mann ein zweites Unternehmen aufgebaut. Das selbe Konzept, für private Ärzte. Man kann online unkompliziert einen Termin buchen, Montag bis Sonntag, zahlt einen Festpreis und bekommt 20 Minuten mit einem Arzt. Keine Sprechstundenhilfe, extrem kleine Räume, Masse statt Klasse. Auch das läuft gut. 

Also habe ich dort einen Termin gebucht. Vor der Arbeit schnell dieses Ohrenproblem klären lassen und weiterschweben, so hatte ich mir das gedacht. Ich habe naiverweise immer noch ein Urvertrauen in Ärzte. Der Kittel in weiß wird doch wissen, was zu tun ist?

Der Kittel in weiß war extrem jung, nervös und unerfahren. Immerhin stellte sie direkt fest, dass meine Ohren unnormal klein sind, und gereinigt werden müssen. Sodann kramte sie ein Gerät aus ihrem Schrank und baute es umständlich auf. Es sah aus, als hätte sie es noch nie zu vor benutzt. Als es nicht funktionierte, wies ich sie darauf hin, dass vielleicht noch der Power On-Knopf zu drücken ist. Und schon spritzte Wasser aus der Düse.

Die nächsten zehn Minuten bestanden aus viel Wasser, das überall hin gelaufen ist und sich in meinem Schoß sammelte, was später natürlich original so aussah wie eingepinkelt.
Erfolgreich verstopfte die Dame meine Ohren damit endgültig. „Ich höre jetzt links nichts mehr!“, bemerkte ich, nicht allzu vorwurfsvoll, denn ich sah dass der Stresslevel der Ärztin schon enorm hoch war. „Das geht in ein paar Minuten wieder weg.“ Aha. Ich lebe ja nun schon eine Weile mit diesen Ohren, und weiß dass es nicht so ist. Aber ich sagte nichts weiter.
Auf der rechten Seite wiederum, meinte die Ärztin eine Infektion entdeckt zu haben. Davon wollte sie eine Probe einschicken. Mit einem langen Wattestäbchen stichelte sie in meinem Ohr herum, und erwischte mehrmals diese Stelle. Und das war wirklich krass. So einen Schmerz habe ich noch nie gespürt, mir schossen sofort die Tränen in die Augen.  Ich konnte die nächsten zwei Stunden einfach nicht mehr aufhören zu heulen. Keine Ahnung was das war. Wie ein umgelegter Schalter.

Da sie einsah, dass nicht viel erreicht wurde, stellte sie mir wenigstens die heißersehnte Überweisung zu einem Ohrenarzt aus. 
„Wie lange dauert das bis ich einen Termin bekomme?“ 
„Wahrscheinlich 2 – 4 Wochen.“
„Auch wenn es akut ist?!“
„Naja, wenn bei der Probe was rauskommt geht es vielleicht schneller. Aber ansonsten nicht.“
Ich bezahlte brav meinen Betrag, sollte in einigen Tagen Bescheid bekommen was bei dieser Probe herauskommt und machte mich auf und davon. Der Weg zur Arbeit war peinlich, weil ich nicht aufhören konnte zu weinen. Ich hörte auf einem Ohr nichts. Und das alles sollte erst in ein paar Wochen behoben werden. Auf der Arbeit merkte meine Kollegin sofort dass etwas nicht stimmt und ich konnte mich bei ihr zu Ende ausheulen.

Das norwegische Gesundheitssystem? Ich werde es nicht wagen, hier ernsthaft krank zu werden. Und viele Deutschen haben es mir bestätigt – das ist hier ein ganz anderes Niveau als in Deutschland. Die richtige Therapie zu bekommen ist Glückssache. Dass die Norweger so gelassen sind, ist meistens angenehm. Aber an diesem Punkt ziehe ich deutsche Gründlichkeit vor.

Immerhin ist am nächsten Tag ein kleines Wunder passiert. Da telefonieren etwas ist, was ich am liebsten vermeide, bin ich direkt zu dem Ohrenarzt hingegangen. Die ganze Nacht legte ich mir die Worte zurecht, die die Sprechstundenhilfe davon überzeugen sollten, mir einen früheren Termin zu geben.
Ich baute mich also am nächsten Morgen vor ihr auf (damit bin ich ja schnell fertig) und begann meine Rede. Nach anderthalb Sätzen unterbrach sie mich schon: „Ich habe jetzt einen Termin, wollen Sie gleich hier bleiben?“
Hätte sie nicht hinter einer Glasscheibe gesessen, hätte ich sie geküsst!
Keine zwei Minuten später saß ich bei einer echten, erfahrenen, extrem freundlichen Ärztin. Und sie hat alles wieder gut gemacht. Dabei den Kopf geschüttelt über das, was ich ihr vom Vortag erzählte. Die „Infektion“ sei einfach getrocknetes Blut von der brutalen Behandlung. Sie prüfte vorsichtshalber noch, ob dadurch dauerhafte Schäden an den Trommelfellen entstanden sind. Glücklicherweise nicht.
Und, um diesen wundervollen Arztbesuch zu krönen, gab sie mir auch direkt den nächsten Termin mit, sodass ich nie wieder den Umweg über zweifelhafte Allgemeinärzte machen muss. 

Diese Geschichte ging also gut. 

Trotzdem brauche ich nach wie vor eine Bank ID. Um den Vertrag für mein Kautionskonto zu unterschreiben. Glücklicherweise ist der Vermieter geduldig, das hätte ich nämlich schon Ende Februar machen müssen.

Um Vipps einzurichten. Vipps ist eine App um Geld zu überweisen, und von der Kirche über den Flohmarkt, jeder bezahlt nur noch damit. Ein weiteres kleines Detail, das zeigt dass man noch nicht dazugehört und das Leben umständlicher macht für alle Beteiligten. Kein Mensch verwendet hier noch Bargeld.

Um meinen Allgemeinarzt zu wechseln.

Um mich beim Portal für meine Steuern einzuloggen.

Um die Ergebnisse von dieser ominösen Probe einzusehen. Ja, sogar das passiert online und ich habe zur Zeit keinen Zugriff darauf!

Mittlerweile habe ich ja einen Reisepass und die Bank ID schon lange beantragt. Der Brief dafür ist auch bei meiner Post angekommen. Und schon zweimal habe ich versucht, den ausgehändigt zu bekommen. Man muss sich mit seinem Reisepass ausweisen, und dieser wird gescannt. 

Aus irgendeinem Grund hat der Scanner ein Problem mit meinem nagelneuen, Reisepass. Es gibt immer eine Fehlermeldung. Samstag trieb ich einen völlig gestressten und unfreundlichen Mitarbeiter damit in den Wahnsinn, bis er mich wegschickte und meinte an Wochentagen seien erfahrenere Leute da.

Gestern stand ich 40 Minuten an dieser Poststelle, mein Pass wurde unzählige Male gescannt. Hinter mir aus der Schlange mischte sich eine junge Frau ein und meinte, sie arbeite mit Pässen, ob sie mal gucken könne … Daraufhin beratschlagte sie sich mit dem Postangestellten, der Scan sieht eigentlich gut aus, keiner weiß woher die Fehlermeldung kommt.
Sie ging einkaufen, der Angestellte telefonierte sonstwo herum um herauszufinden was an dem Gerät kaputt ist. Ich wollte so gerne diesen blöden Brief bekommen! Wenn er nicht innerhalb einer Woche abgeholt wird, wird er nämlich wieder zurückgeschickt. Nix mit Bank ID.
Die Frau aus der Schlange war fertig mit einkaufen, ich stand immer noch da. Sie entpuppte sich als Deutsche, versuchte weiter zu helfen, ob ich mich nicht mit meinem deutschen Personalausweis ausweisen könne.
Nein, das geht nicht, da steht nämlich das Geschlecht nicht drauf, dieses Dokument wird in Norwegen nicht anerkannt.

Und somit musste ich auch dieses Mal unverrichteter Dinge wieder abziehen. Sie versuchen, das Gerät zu reparieren, ich soll in zwei Tagen wiederkommen. Ich hoffe, dass der Brief dann noch da ist.

Ist es nachvollziehbar, dass ich mittlerweile von diesem norwegischen Onlinekram extrem genervt bin? So dumm kann man gar nicht denken, wie es an jeder Stelle kommt. Und alles hängt zusammen, sodass eine einzelne fehlende Komponente dafür sorgt, dass man außen vor steht. Deutsche Bürokratie ist Urlaub dagegen.

Ich harre natürlich weiter aus und hoffe. Bald bricht der vierte Monat hier an, vielleicht habe ich es ja dann doch bald mal endlich geschafft, Teil dieses Systems zu werden! Und dann muss ich auch eine Weile hier bleiben, so hart wie das erkämpft ist.

Ist lang geworden heute, und deshalb fang ich nicht noch an, über Wohnung und Allgemeinzustand zu erzählen. Aber auch dazu schreibe ich euch bald!

Lasst es euch gut gehen, genießt den Frühling! Man sieht sich. 

Samstag, 23. Februar 2019

Manchmal ist es nicht so cool

Es ist leichter, zu schreiben wenn es einem richtig gut geht. Im Moment ist es nicht so, aber da das auch zur Geschichte gehört kommt trotzdem ein Blogeintrag.

Auf einmal bin ich nämlich einsam, fremd, alleine, weit weg. Was fast zwei Monate überhaupt kein Problem war, kommt jetzt mit Wucht, warum auch immer, verspätet. Abends. An den Wochenenden. Ich dachte, ich bin jemand der gut mit sich selbst auskommt und es endlos genießt, wenn niemand da ist, vor allem nach den letzten fünf Jahren im Wohnheim ohne jemals Ruhe zu haben. Stattdessen merke ich, dass ich unendlich viel Gemeinschaft und Dialog brauche.

Gleichzeitig hat meine Wohnungssuche Fahrt aufgenommen, ich war beinahe jede Woche bei 3 – 4 Besichtigungen und gerade als ich mich entschlossen hatte, nach einer WG zu suchen, bot sich mir die perfekte kleine Einzimmerwohnung an, die im besten Teil der Stadt liegt. Und eine Entscheidung musste innerhalb eines Tages getroffen werden.

Wenn ich sage, dass ich schlecht bin in Entscheidungen, antworten mir die meisten "Oh, ich auch!". Aber ernsthaft, meine Unfähigkeit zu einem Entschluss ist extrem, und erzeugt endlos Panik und Verzweiflung. Ich konnte nicht schlafen, ich hatte Angst davor mich falsch zu entscheiden. Ich suchte nach Alternativen, fand aber nichts.
Ich habe meine Kollegen in den Wahnsinn getrieben mit endlosem Abwägen von Vor- und Nachteilen von WGs und Wohnungen. Es hat sich alles aufgewogen, und es gibt zu allem gute und schlechte Beispiele. Manche werden in WGs Freunde fürs Leben, andere finden es so schlimm dass sie lieber Überstunden machen als nach Hause zu kommen. Manche genießen es alleine zu wohnen, anderen fehlt etwas. Letzten Endes konnte mir niemand einen anderen Rat geben als "Das musst du selbst entscheiden".

Das habe ich also, ich musste. Ich hätte gerne noch ein paar Wochen weiter darüber gebrütet. Aber so funktioniert das Leben nicht, und vor allem nicht der Wohnungsmarkt.
Ich werde also ab März eine kleine Einraumwohnung mitten in Grünerløkka mieten, gegenüber einer Designhochschule und direkt am Fluß. Es ist wunderschön, und ich glaube ich kann mich dort wohlfühlen, besonders im Sommer.
Habe ich den Schritt bereut? Schon tausend Mal, das gehört zu meiner Entscheidungsunfähigkeit dazu.

Auf Instagram ist mir ein Zitat aus der ZEIT begegnet:




Ich finde es wunderbar, und versuche, mich öfter daran zu erinnern. Weder geht die Welt unter, wenn ich mich falsch entschieden habe, noch kann ich es nicht irgendwann (nach einem Jahr Mindestmietdauer …) rückgängig machen. Warum diese Angst vor einem Fehler. Die Angst, etwas zu verpassen. Ich probiere es jetzt einfach aus.

Trotzdem ist die ganze Wohnungssache immer noch furchteinflößend. Eine große Menge Kaution muss auf ein bestimmtes Konto überwiesen werden. Für diesen Vertrag brauche ich eine Bank-ID, für diese ID ein norwegisches Konto, und das dauert Ewigkeiten und hängt mit meinem deutschen Reisepass zusammen, den ich auch erst in frühestens einer Woche erhalten werde. Jede Kleinigkeit ist so unglaublich kompliziert hier in Norwegen!
Außerdem brauche ich unendlich viel, in der Wohnung ist bis auf eine Küche nichts. Besteck, Möbel, ... Bis ich meine eigenen Habseligkeiten habe muss ich mir eine Luftmatratze von meiner Kollegin borgen. Dann muss ich mich um ein Stromabo kümmern. Es gibt unterschiedlichste Arten Strom zu beziehen, entweder mit Festpreis, oder mit Momentpreis, oder eine Kombination aus beidem, zusätzlich zahlt man auch noch eine Gebühr um das Stromnetz an sich nutzen zu können … Ich weiß nicht ob es in Deutschland auch so schwierig ist. Wenigstens Internet ist schon da.

Das ist mir alles viel zu erwachsen. Da muss ich jetzt durch. Bald ist (doch hoffentlich) Frühling, ich freue mich auf den nächsten Besuch zu Hause und auf den Moment, wenn die Wohnung wohnlich, zum Zuhause geworden ist. Ich glaube, das dauert noch lange.

Ich bin euch sehr dankbar, wenn ihr weiter im Gebet an mich denkt. Ich würde mir im Moment so sehr weitere Personen wünschen, die in der Nähe wohnen und einfach da sind, auch am Wochenende. Mit denen man unspektakulär Zeit verbringen kann, ohne dass es zu einem Riesenevent werden muss. Und dass meine Wohnung zu einem Zuhause wird.

Zum Schluss noch einige neue Erkenntnisse aus diesem Land:

  • Es gibt hier keine Spatzen. Also, wirklich keinen einzigen. Ich sehe Möwen und ein paar Tauben aber das wars. 
  • Die Norweger habens mit dem Feuer. Jede größere Wohnung muss einen zweiten Ausgang haben (gruselig, immer diese Türen in den hintersten Ecken die nie jemand aufmacht und in enge, unbenutzte Treppenhäuser führen), und in jeder Wohnung muss ein Feuerlöscher stehen. Wie ich den in meinem sowieso schon winzigen neuen Heim unterbringe muss ich mir noch überlegen.
  • Es gibt keine Bäume an den Straßen. Schade! In Berlin pflegte ich eine intensive Freundschaft mit dem Baum vor meinem Fenster und ging mit ihm durch alle Jahreszeiten. Hier gibt es zwar Parks, aber die Straßen sind ausschließlich zur Fortbewegung gedacht und werden nicht begrünt. 
  • Wer einen großen Cappuccino/Latte Macchiato/sowas bestellt, bekommt mehr Kaffee, und nicht mehr Milch in die Tasse. Muss man wissen, wenn man sensibel für Koffein ist. 
  • Briefe werden hier von A4 nicht gedrittelt, sondern halbiert. Es kommt mir extrem unhandlich vor, diese Oschis aus dem Briefkasten zu ziehen, auch wenn es sich tatsächlich um die selbe Menge Papier handelt.
  • Norweger machen beim Sprechen ein Geräusch, über das sich die meisten überhaupt nicht bewusst sind. Als ich das beim Mittagessen zur Sprache brachte, brachte ich meine Kollegin vollständig aus der Fassung. Sie macht das auch, glaubte mir aber kein Wort. Es handelt sich um ein einatmendes "Ja", das vor allem mittelalte Frauen benutzen und mir auch in Deutschland schon begegnet ist. Hier ist es aber extrem gebräuchlich und sehr typisch. In die gleiche Kategorie gehören bestätigende Laute, die als zuhörender Gesprächspartner ununterbrochen von sich gegeben werden um zu zeigen dass man aufmerksam bei der Sache ist. Das habe ich mir auch schon angewöhnt.