Sonntag, 4. November 2018

Der lange Weg nach Oslo

11 Uhr 17, 3. August. Ich klicke auf Senden und meine Bewerbung wird nach Oslo verschickt. Die dritte an diesem Tag. Das reicht erstmal, denke ich, und freue mich. Es sind tolle Agenturen. Jetzt geht es los! Hätte ich gewusst, wie viele noch folgen werden …

Nachmittags, 28. August. Jeder Muskel zittert, der Tag war anstrengend. Ich schalte mein Handy ein und halte es minutenlang hoch. Die Karpaten bieten viel, aber keinen Internetempfang. Was, wenn ich jetzt eine Rückmeldung auf eine Bewerbung bekomme?


15 Uhr 32, 11. September. Ich schreibe eine e-Mail an meine Vermietung und bitte darum, doch noch länger wohnen bleiben zu dürfen als bis Oktober. „Es gestaltet sich mit der Arbeitssuche als schwieriger als angenommen.“ Dabei will ich hier so bald wie möglich weg! Allerdings erhalte ich meistens überhaupt keine Reaktion auf meine Bewerbungen, manchmal ein "Gerade brauchen wir niemanden, wir behalten deine Kontaktdaten aber" und selten ein Nein.


Am nächsten Tag. Ich schicke meine ersten Bewerbungen nach Stockholm. In Oslo gibt es kaum noch eine gute Agentur, bei der ich mich nicht schon beworben habe, es sind schon über 20. Ich war mir so sicher gewesen, dass ich dorthin soll, seit Monaten habe ich das Gefühl. Ich verstehe das nicht und mir rennt die Zeit davon. Eigentlich will ich nicht wirklich nach Stockholm, oder überhaupt von meinem Plan abweichen. In Berlin bleiben? Noch viel weniger, das wäre aufgeben. Ich will was Neues!
Aber ok Gott. Entscheide du. Ich stell mich dann darauf ein.


Zwei Stunden später. Ich stoße auf „Making Waves“ in Stockholm. Die Website sieht ziemlich gut aus. Sie haben eine lange Liste an Stellenausschreibungen in ihren unterschiedlichen Büros. Unter anderem suchen sie – neuausgebildete Designer für Oslo. Ich erfahre einen gewaltigen Adrenalinschub. Nein, diese Agentur ist mir auf meiner Suche in Oslo noch nicht begegnet, und dabei suchen sie genau solche Leute wie mich. Innerhalb von Minuten ist die nächste Bewerbung auf dem Weg. Ich hoffe wieder, und habe das Gefühl dass es diesmal anders ist. Schreibe an meinen Hauskreis: „Ich glaube, jetzt bewegt sich was!“ 


15 Uhr 55, 19. September. Eine andere Agentur aus Oslo meldet sich, Netlife Design. Sie wollen mit mir sprechen! Endlich! Die ersten. Wir verabreden ein Gespräch über Skype.


Eine Woche später. Ich zittere, und dabei bin ich sonst nie aufgeregt vor Präsentationen. Aber jetzt ist es ein bisschen wichtiger … „Für das Protokoll frage ich Sie: fühlen Sie sich dazu bereit, diese Prüfung anzutreten?“ Ja. Ich präsentiere meine Bachelorarbeit und bekomme eine 1,0. Damit ist das Studium abgehakt.


Am nächsten Tag, ich stehe hinter der Bar an der Arbeit und es ist nicht viel los. Ich checke meine Mails, und Making Waves meldet sich. Sie mögen mein Portfolio und wollen mit mir sprechen. Wow! Wir verabreden ein Gespräch über Skype. Ich bin stolz, jetzt doch zwei Gespräche eingefahren zu haben. Ich halte es geheim und denke mir, dass ich lieber alle überraschen möchte wenn ich dann den Job habe. 


Kurz nach elf, 1. Oktober. Die Verbindung ist schlecht, ich schwitze und mir ist kalt, ich gebe wirklich dumme Antworten obwohl ich mich intensiv vorbereitet habe, und mir fehlt so manch englische Vokabel. Einige Fragen kommen sehr unerwartet. Als das Gespräch mit Making Waves vorbei ist bin ich auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Das lief schlecht, und diese Agentur kann ich wohl abschreiben. So viel zu der Vorstellung, ich könnte das alleine schaffen und hinterher alle überraschen. Übermorgen ist das andere Gespräch, und das muss besser sein. Ich bitte alle möglichen Leute, dafür zu beten. Weil ich verstanden habe, dass ich Gottes Hilfe brauche.


Kurz nach 10, dritter Oktober. Ich bin bei Mama und Papa, es ist ja Feiertag. Ich genieße eine flüssige Internetverbindung und habe ein sehr gutes, nettes Gespräch mit Netlife. Als ich fertig bin, freue ich mich. Abends bekomme ich schon die Einladung, zu einem zweiten Gespräch nach Oslo zu kommen. Na gerne. Ich war ja immerhin noch nie da.


Eine Woche später: ich bekomme auch von Making Waves eine Einladung. Das ist sehr unerwartet! Aber ich sage natürlich zu. 


14 Uhr 40, 16. Oktober. Ich stehe mitten in Oslo am Bahnhof, hinter mir fällt die Tür eines hohen, modernen Gebäudes ins Schloss. Ich bin völlig von den Socken. Das Gespräch mit Netlife war überragend. Sie waren begeistert von dem was ich ihnen gezeigt habe, ihre Fragen konnte ich sehr gut beantworten und selbst auch schlaue stellen. Es kippte innerhalb von 30 Minuten von einem "Ich bewerbe mich bei euch" zu "Wir bewerben uns bei dir, komm her, wir bieten dir das und das!".  Es lief so perfekt, dass ich ganz genau weiß, dass Gott das Steuer übernommen hat. Ich bin überwältigt, diese krasse Auswirkung von meiner Bitte um Gebet zu sehen. Ich glaube, mich jetzt endlich wirklich auf Oslo einstellen zu können, das habe ich schon in den Augen der beiden die mir gegenüber saßen gesehen.


2 Uhr 37. Ich stöhne, drehe mich zum 226. mal um und lausche weiterhin dem Sturm draußen. Es ist der 24. Oktober, ich habe bis jetzt kaum geschlafen und tue es auch in den nächsten zwei Stunden nicht mehr. Um 4 Uhr 6 stehe ich freiwillig auf, bevor mein Wecker die Chance hat zu klingeln. Draußen ist es stockdunkel, und ich mache mich fertig um zum Flughafen zu fahren und innerhalb von zwei Wochen das zweite Mal nach Oslo zu fliegen. Den Weg kenne ich jetzt, und auch wie ich genauso unbeeindruckt und cool das ganze Prozedere hinter mich bringe wie all die anderen schnöseligen Geschäftsleute die nur für einen Tag in alle möglichen Ecken der Welt jetten. Mehrere Gespräche bei Making Waves stehen für den Tag an, nachdem ich am Vortag bereits einige Logik- und Persönlichkeitstests online gemacht habe und außerdem eine Probe-Aufgabe für sie löste. Das Ergebnis dieser musste ich präsentieren und mich dabei filmen, es dann an sie schicken. Aufwändig, die wollen es wirklich wissen!
Ich bin nervös, vor allem aber habe ich extreme Kopfschmerzen und mir ist schlecht, nicht nach reisen und glänzen.
Trotzdem, der Tag verläuft gut. Und, nachdem ich mir in der letzten Zeit ausgiebig den Kopf darüber zerbrochen habe, wohin ich denn wohl lieber wollen würde, zu Netlife oder Making Waves – jetzt weiß ich es. Die heute besuchte Agentur ist der Hammer und ich will dort arbeiten! Nicht nur, aber auch weil sie wirklich guten Kaffee haben.


16 Uhr 36. Ich schaue auf meine Computeruhr, während meine e-Mails runtergeladen werden. Es ist der 26. Oktober. Die Mails sind da, eine kommt von Netlife. Sie bieten mir eine Stelle an. Eine andere kommt von Making Waves. „Hab ein schönes Wochenende!“ steht im Betreff. Sie bieten mir eine Stelle an. 



Und somit habe ich jetzt, nach knapp drei Monaten, 30 Bewerbungen, 4 Flügen und vielen kleineren Krisen tatsächlich einen Job in Oslo. So, wie ich es mir schon zu Silvester vorgenommen und in mein Tagebuch aufgeschrieben hatte. Ich hatte das Gefühl, dass das mein Weg ist, auch wenn es eigentlich keinen vernünftigen Grund dafür gibt. Ich durfte aber sehen, dass Gott mir dabei hilft, diesem Ruf zu folgen – wenn ich ihn denn mit ins Boot nehme und nicht glaube, irgendetwas allein auf die Beine stellen zu können.
Bis es losgeht, habe ich noch ein bisschen Zeit, auch wenn ich es eigentlich kaum abwarten kann. Jetzt packe ich und sortiere aus, versuche meinen Besitz ein bisschen zu minimalisieren. Außerdem werde ich mich mit Online-Kursen, Büchern & Co. auf die Materie vorbereiten, die auf mich wartet. Und noch Zeit mit Familie und Freunden genießen.


Manchmal muss man etwas Neues wagen, um nicht einzurosten. Ich werde ein schön gemachtes Nest verlassen, einen großen Freundeskreis, eine Stadt in der ich mich auskenne und zurechtfinde. Ich werde erst wieder herausfinden müssen, wo man Kaffee trinken kann, wo in die Kirche gehen, wo zum Sport. Das wird bestimmt nicht einfach werden. Aber sich lohnen? Fragt mich in einem halben Jahr nochmal! Ich denke schon.